Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Hofnärrin

Die Hofnärrin

Titel: Die Hofnärrin
Autoren: Philippa Gregory
Vom Netzwerk:
nahm mich bei der Hand
und ging mit mir in unseren kleinen Laden. Durch das Bleiglasfenster
fiel ein schwacher Lichtschimmer auf mein Gesicht. Er fasste mit der
Hand unter mein Kinn und drehte mein Gesicht mal in die eine, dann in
die andere Richtung.
    »Wie sah der dritte Mann aus?«, fragte er leise.
    »Er war ganz in Weiß gekleidet«, antwortete ich durch halb
geschlossene Lippen. »Und er strahlte.«
    »Wie war er gekleidet?«
    »Ich habe nur einen weißen Umhang erkennen können.«
    »Und was trug er auf dem Kopf?«
    »Da habe ich nur etwas Weißes gesehen.«
    »Und sein Gesicht?«
    »Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, weil das Licht so
hell war.«
    »Glaubst du, dass er einen Namen hatte, Kind?«
    Ich spürte, wie das Wort in meinen Mund kam, obwohl ich es
nicht verstand. »Uriel.«
    Die Hand unter meinem Kinn erstarrte. Der Mann schaute mir ins
Gesicht, als läse er in einem von Vaters Büchern. »Uriel?«
    »Ja, Sir.«
    »Hast du diesen Namen vorher schon einmal gehört?«
    »Nein, Sir.«
    »Weißt du, wer Uriel ist?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe einfach geglaubt, das wäre
der Name des Mannes, der mit Euch gekommen ist. Aber ich habe diesen
Namen noch nie gehört, bevor ich ihn eben sagte.«
    Der jüngere Mann wandte sich an meinen Vater. »Wenn Ihr
behauptet, sie sei eine Närrin, wollt Ihr damit andeuten, dass sie das
zweite Gesicht besitzt?«
    »Sie sagt oft etwas Verdrehtes«, behauptete mein Vater stur.
»Aber nichts Schlimmes. Sie ist ein gutes Mädchen, ich habe sie jeden
Tag ihres Lebens in die Kirche geschickt. Sie meint es nicht böse, sie
spricht, ohne vorher zu überlegen. Sie kann nichts dafür. Sie ist nur
eine Närrin, weiter nichts.«
    »Und warum kleidet Ihr sie wie einen Burschen?«, fragte der
junge Lord.
    Mein Vater hob die Schultern. »Oh, meine Herren, bedenkt die
schweren Zeiten, in denen wir leben! Ich musste sie heil durch Spanien
und Frankreich bringen, und durch die Niederlande, ohne die Hilfe einer
fürsorglichen Mutter. Und nun muss sie Botengänge erledigen und ist
überdies mein Schreiber. Ein Junge wäre wirklich besser für mich
gewesen. Wenn sie erwachsen ist, darf sie wohl ein Kleid haben, aber
was ich dann mit ihr anfangen soll, weiß ich nicht. Ein Mädchen ist mir
zu nichts nutze, mit einem jungen Burschen ist das anders.«
    »Sie besitzt das zweite Gesicht«, stieß der ältere Mann
hervor. »Gelobt sei Gott, ich komme zu Euch auf der Suche nach
Manuskripten und finde ein Mädchen, das Uriel sieht und seinen
geheiligten Namen kennt.« Er wandte sich an meinen Vater. »Hat sie
irgendwelche Kenntnis von heiligen Dingen? Hat sie mehr gelesen als die
Bibel und ihren Katechismus? Liest sie Eure Bücher?«
    »Um Gottes willen, nein«, beteuerte mein Vater, er log aus
voller Überzeugung. »Ich schwöre Euch, meine Herren, ich habe sie als
gutes, vollkommen unwissendes Mädchen erzogen. Sie weiß nichts, das
verspreche ich Euch. Gar nichts.«
    Der ältere Mann schüttelte den Kopf. »Bitte«, sagte er sanft
an mich und an meinen Vater gewandt, »fürchtet Euch nicht vor uns. Ihr
könnt mir vertrauen. Dieses Mädchen besitzt das zweite Gesicht, nicht
wahr?«
    »Nein«, behauptete mein Vater rundweg, stritt es zu meiner
Sicherheit ab. »Sie ist nichts weiter als eine Närrin und die Last
meines Lebens. Macht mehr Sorgen, als sie wert ist. Wenn ich nur
Verwandte hätte, zu denen ich sie schicken könnte – ich würde
es sofort tun. Sie verdient Eure Aufmerksamkeit nicht …«
    »Beruhigt Euch«, sagte der junge Mann sanft. »Wir sind nicht
gekommen, um Euch zu peinigen. Dieser Gentleman ist John Dee, mein
Tutor. Und ich bin Robert Dudley. Ihr braucht Euch nicht vor uns zu
fürchten.«
    Bei der Nennung ihrer Namen wurde mein Vater noch furchtsamer,
und er hatte auch allen Grund dazu. Der hübsche junge Mann war der Sohn
des mächtigsten Mannes im Lande: Lord John Dudley, Lordprotektor des
Königs von England. Falls ihnen die Büchersammlung meines Vaters
gefiel, konnten wir vielleicht sogar unserem König, dem belesenen
König, Bücher liefern und damit ein Vermögen verdienen. Waren ihnen
unsere Bücher jedoch zu aufrührerisch oder blasphemisch oder
ketzerisch, zu zweideutig oder mit zu viel neuem Wissen angefüllt, dann
drohte uns der Kerker oder das Exil – oder sogar der Tod.
    »Ihr seid zu gütig, Sir. Soll ich meine Bücher zum Palast
bringen? Hier ist doch zu schlechtes Licht zum Lesen, es besteht keine
Notwendigkeit, dass Ihr Euch in meinem armseligen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher