Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (German Edition)

Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (German Edition)

Titel: Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (German Edition)
Autoren: Ted Chiang
Vom Netzwerk:
Wegstrecke viele Male zurückgelegt und nie auch nur einen Mann eingebüßt, und schließlich ließen sie die Sonne unter sich zurück, und alles war wieder wie vorher.
    Das Tageslicht schien nun aufwärts , was über die Maßen unnatürlich wirkte. Von den Balkonen hatte man einzelne Bretter entfernt, sodass das Sonnenlicht durch die Schlitze auf die Erde scheinen konnte, die man dazwischen aufgehäuft hatte. Die Pflanzen wuchsen seitwärts und nach unten, reckten sich den Sonnenstrahlen entgegen.
    Dann näherten sie sich der Höhe der Sterne, kleinen, feurigen Kugeln, die überall am Himmel verstreut waren. Hillalum hätte erwartet, dass sie dichter beieinanderliegen würden, doch obwohl es viele kleinere Sterne gab, die von der Erde aus nicht zu erkennen waren, schienen sie ihm hier dünn gesät. Die Sterne befanden sich nicht alle auf einer Höhe, sondern begleiteten sie lange Zeit auf ihrem Weg nach oben. Es war schwer zu sagen, wie weit weg sie waren, da es keinen Vergleich für ihre Größe gab, doch hin und wieder glitt einer von ihnen dicht an ihnen vorbei und stellte dabei seine erstaunliche Geschwindigkeit unter Beweis. Da wurde Hillalum klar, dass alle Himmelskörper sich so schnell über das Firmament bewegten, denn sonst hätten sie die Strecke von einem Rand der Welt zum anderen nicht an einem Tag zurücklegen können.
    Tagsüber war das Blau des Himmels weit blasser, als es von der Erde aus den Anschein hatte, ein Anzeichen dafür, dass sie sich dem Himmelsgewölbe näherten. Wenn Hillalum den Himmel genauer betrachtete, stellte er zu seiner Verblüffung fest, dass die Sterne am Tage zu sehen waren. Von der Erdoberfläche aus konnte man sie gegen den grellen Schein der Sonne nicht erkennen, doch hier oben zeichneten sie sich deutlich ab.
    Eines Tages kam Nanni auf ihn zugeeilt und sagte: »Ein Stern ist in den Turm eingeschlagen!«
    »Was!« Hillalum sah sich panisch um, als ob ihm jemand einen Schlag versetzt hätte.
    »Nein, nicht jetzt. Das ist schon lange her, mehr als ein Jahrhundert. Einer der Turmbewohner erzählt die Geschichte gerade – sein Großvater war dabei.«
    Sie begaben sich in die Korridore im Turm und stießen auf einige Bergarbeiter, die sich um einen verhutzelten alten Mann geschart hatten. »... steckte in der Mauer fest, etwa eine halbe Meile über uns. Ihr könnt immer noch die Scharte sehen, die er hinterlassen hat; wie eine riesige Pockennarbe.«
    »Was ist mit dem Stern geschehen?«
    »Er brannte und zischte und war so hell, dass niemand ihn ansehen konnte. Es wurde erwogen, ihn herauszubrechen, damit er weiter seine Bahn ziehen konnte, aber er war zu heiß, um sich ihm zu nähern, und man wagte es nicht, ihn zu löschen. Wochen später hatte er sich abgekühlt und war zu einem Klumpen schwarzen Himmelsmetalls geworden, so groß, dass ein Mann kaum die Arme um ihn legen konnte.«
    »So groß?«, sagte Nanni, die Stimme voller Ehrfurcht. Wenn Sterne von selbst vom Himmel fielen, fand man manchmal kleine Klumpen des Himmelsmetalls, härter als selbst die beste Bronze. Man konnte dieses Metall nicht einschmelzen, sondern nur mit dem Hammer bearbeiten, wenn es rotglühend erhitzt wurde; Amulette wurden daraus gemacht.
    »In der Tat, niemand hat je davon gehört, dass ein so großer Klumpen auf der Erde gefunden worden wäre. Könnt ihr euch die Werkzeuge vorstellen, die man aus ihm hätte machen können!«
    »Habt ihr etwa versucht, Werkzeuge aus ihm zu schmieden?«, fragte Hillalum entsetzt.
    »O nein. Die Leute hatten Angst, ihn anzufassen. Alle stiegen vom Turm herab und warteten darauf, dass Jahwe Vergeltung üben würde, weil sie den Lauf der Schöpfung gestört hatten. Sie warteten monatelang, aber kein Zeichen wurde gesehen. Schließlich kehrten sie zurück und brachen den Stern heraus. Nun ruht er in einem Tempel, unten in der Stadt.«
    Alle waren still. Dann sagte einer der Bergarbeiter: »In den Geschichten über den Turm habe ich nie etwas davon gehört.«
    »Es war eine Verfehlung, etwas, worüber man nicht spricht.«
     
    Die Farbe des Himmels wurde immer blasser, je höher sie auf den Turm stiegen, bis Hillalum eines Morgens aufwachte, an den Rand der Rampe trat und bestürzt aufschrie: Was bisher wie ein fahler Himmel ausgesehen hatte, schien nun eine weiße Decke zu sein, die sich weit über ihren Köpfen erstreckte. Jetzt waren sie nahe genug, um das Himmelsgewölbe zu sehen, um es als eine feste Schale zu erkennen, die den Himmel umschloss. Die Bergarbeiter
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher