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Die Henkerstochter

Titel: Die Henkerstochter
Autoren: Oliver P�tzsch
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diesen letzten Sohn nehmen würde. Er sank auf die Knie und strich ihm sanft das Haar aus dem Gesicht. Die Augen des Jungen waren bereits geschlossen, seine Brust ging hektisch auf und ab. Nach wenigen Minuten fuhr ein Beben durch den kleinen Körper, dann war es still.
    Josef Grimmer hob den Kopf und schrie sein Elend über den Lech. Seine Stimme klang hoch und schrill wie die eines Weibes.
     
    Der Schrei erreichte Simon Fronwieser zeitgleich mit einem heftigen Klopfen unten an der Tür. Vom Haus des Medicus in der Hennengasse war es nur einen Steinwurf weit hinunter zum Fluss. Schon vorher hatte Simon immer wieder von seinen Büchern aufgeschaut, weil ihn das Rufen der Flößer von seinen Studien abgelenkt hatte. Als der Schrei jetzt durch die Straße hallte, wusste er, dass etwas passiert sein musste. Das Klopfen an der Türe wurde energischer. Seufzend schloss er einen dicken Wälzer, der sich mit der Anatomie befasste. Auch dieses Buch kratzte nur an der Oberfläche des menschlichen Körpers. Die Zusammensetzung der Säfte, Aderlass als Allheilmittel … Schon zu oft hatte Simon diese ewig gleichen Litaneien gelesen. Wirklich erfahren über das Innere des Körpers hatte er nichts. Auch heute würde das wohl so bleiben, denn zusätzlich zum Klopfen war jetzt ein Rufen von unten zu vernehmen.
    »Herr Doktor, Herr Doktor! Kommen’s schnell! Unten an der Floßlände liegt der Sohn vom Grimmer in seinem Blut. Es schaut bös aus! «
    Simon warf seinen schwarzen Rock mit den poliertenKupferknöpfen über, fuhr sich durch das lange schwarze Haar und ordnete vor dem kleinen Spiegel im Studierzimmer seinen Bart. Die schulterlange Mähne und der gestutzte Knebelbart, wie er jetzt wieder in Mode war, ließen ihn älter aussehen als seine fünfundzwanzig Jahre. Bei einigen Schongauern galt Simon als Stutzer, doch das war ihm egal. Er wusste, dass die Mädchen das anders sahen. Mit seinen schwarzen, weichen Augen, der wohlgeformten Nase und der schlanken Gestalt war Simon bei der Schongauer Damenwelt gern gesehen. Hinzu kam, dass er sich täglich pflegte. Er hatte noch alle Zähne, badete regelmäßig und hatte sich aus Augsburg von seinem kargen Lohn ein teures Parfum mit Rosenduft kommen lassen. Nur seine Größe machte ihm zu schaffen. Mit gerade mal fünf Fuß musste Simon zu den meisten Männern, und auch zu einigen Frauen, aufschauen. Aber dafür gab es ja Stulpenstiefel mit hohen Absätzen.
    Das Klopfen war in ein regelmäßiges Hämmern übergegangen. Simon eilte nach unten und riss die Türe auf. Vor ihm stand einer der Gerber, die am Fluss arbeiteten. Gabriel, so weit Simon sich erinnerte. Der Medicus kannte ihn von einer früheren Behandlung. Er hatte ihm letztes Jahr den Arm geschient, als er betrunken am Judasmarkt in eine Schlägerei verwickelt war. Simon setzte eine offizielle Miene auf. Er wusste, was er seinem Beruf schuldig war.
    »Was gibt’s?«
    Der Gerber sah ihn skeptisch an. »Wo ist Euer Vater? Unten am Lech hat’s einen bösen Unfall gegeben.«
    »Mein Vater ist drüben im Spital. Wenn’s dringend ist, müsst ihr mit mir oder dem Bader vorliebnehmen. «
    »Der Bader ist selber krank ...«
    Simon runzelte die Stirn. Noch immer galt er hier imOrt nur als Sohn des Stadtmedicus. Und das, obwohl er in Ingolstadt studiert hatte und nun schon seit beinahe sieben Jahren seinem Vater bei sämtlichen Wehwehchen zur Seite stand. In den letzten Jahren hatte er auch immer wieder alleine kuriert. Zuletzt einen bösen Fall von Fieber. Tagelang hatte er der kleinen Tochter des Schefflers Wadenwickel und Breiumschläge gemacht und ihr eine neue Medizin eingeflößt mit einem Pulver aus gelber Rinde, das aus Westindien stammte und »Jesuitenpulver« genannt wurde. Das Fieber war zurückgegangen, und der Scheffler hatte sich mit zwei Gulden mehr als erkenntlich gezeigt. Trotzdem trauten ihm die Leute im Ort nicht.
    Simon sah den Mann vor ihm herausfordernd an. Der Gerber zuckte die Schultern, dann wandte er sich zum Gehen. Über die Schulter warf er dem Medicus noch einen abschätzigen Blick zu.
    »Dann kommt schnell, wenn’s nicht sowieso schon zu spät ist.«
    Simon eilte dem Mann hinterher und bog mit ihm gemeinsam in die Münzstraße. Heute am Tag nach Georgi hatten die meisten Handwerker ihre Läden in den Parterrewohnungen bereits seit Stunden geöffnet. Am Georgstag traten die Knechte und Mägde in den Höfen rund um Schongau ihre Dienste an. Dementsprechend viel Menschen waren heute auf den Straßen
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