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Die Henkerstochter

Titel: Die Henkerstochter
Autoren: Oliver P�tzsch
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immer war der Lärm aus der Stadt zu hören. Musik, Gelächter, irgendwo in der Nähe zwitscherte eine Amsel. Das Schwert lehnte wie ein Spazierstock an der Bank.
    »Denk an die Stricke!«, rief der Henker seinem Sohn zu, ohne die Augen zu öffnen.
    Jakob zäumte in dem ans Haus angrenzenden Stall den klapprigen Schimmel auf und spannte ihn vor den Wagen. Stundenlang hatte er den zweirädrigen Karren gestern noch geschrubbt. Zwecklos, wie er jetzt feststellen musste. Schmutz und Blutflecken hatten sich in das Holz eingefressen. Jakob warf auf die schlimmsten Stellen ein wenig Stroh. Dann war der Wagen bereit für den großen Tag.
    Mit seinen zwölf Jahren hatte der Sohn des Henkers bereits einige Hinrichtungen aus nächster Nähe erlebt, zwei Erhängungen und das Ertränken einer dreimal verurteilten Diebin. Beim ersten Hängen war er gerade sechs Jahre alt gewesen. Jakob erinnerte sich noch gut, wie der Straßenräuber fast eine viertel Stunde lang am Seil getanzt hatte. Die Menge hatte gejohlt, und der Vater war an diesem Abend mit einem extragroßen Stück Hammelfleisch heimgekommen. Nach Hinrichtungen ging es den Kuisls besonders gut.
    Jakob holte ein paar Seile aus der Truhe hinten im Stall und packte sie in einen Sack zu den Ketten, den rostigen Beißzangen und den Leinentüchern zum Aufwischen des Blutes. Dann warf er den Sack auf den Wagen und führte den aufgezäumten Schimmel nach draußen vor das Haus. Sein Vater kletterte auf den Karren und setzte sich im Schneidersitz auf den Holzboden. Das Schwert ruhte auf seinen mächtigen Oberschenkeln. Der Büttel schritt eilig vorneweg. Er war froh, außerhalb der Reichweite des Henkers zu sein.
    »Los jetzt!«, rief Johannes Kuisl.
    Jakob zog an den Zügeln, und der Wagen setzte sich quietschend in Bewegung.
    Während der Schimmel gemächlich die breite Straße Richtung Oberstadt trottete, sah der Sohn immer wieder nach hinten zu seinem Vater. Jakob hatte die Arbeit seinerFamilie immer geachtet. Auch wenn die Leute von einem ehrlosen Beruf sprachen, konnte er nichts Schimpfliches daran finden. Geschminkte Huren und Gaukler, die waren ehrlos. Doch sein Vater hatte einen harten, anständigen Beruf, der viel Erfahrung benötigte. Jakob lernte von ihm das schwierige Handwerk des Tötens.
    Wenn er Glück hatte und der Kurfürst es zuließ, würde er in ein paar Jahren seine Meisterprüfung machen. Eine standesgemäße, handwerklich perfekte Enthauptung. Jakob hatte noch nie eine gesehen. Umso wichtiger war es, heute genau zuzuschauen.
    Der Wagen war mittlerweile über eine schmale, steile Straße in die Stadt eingefahren und hatte den Marktplatz erreicht. Überall vor den Patrizierhäusern waren Buden und Stände aufgebaut. Dreckverschmierte Mädchen verkauften gebrannte Nüsse und kleine, duftende Brote. In einer Ecke hatte sich eine Gruppe von Spielleuten niedergelassen, jonglierte mit Bällen und sang Spottverse auf die Kindsmörderin. Zwar war der nächste Jahrmarkt erst Ende Oktober, doch die Hinrichtung hatte sich in den umliegenden Dörfern herumgesprochen. Man tratschte, aß, kaufte ein paar Leckereien, um dann das blutige Spektakel als Höhepunkt zu feiern.
    Jakob sah vom Kutschbock hinunter auf die Leute, die den Henkerskarren teils lachend, teils staunend anstarrten. Viel war hier nicht mehr los, der Marktplatz hatte sich geleert. Die meisten Schongauer waren bereits zur Köpfstatt außerhalb der Stadtmauern geeilt, um die besten Plätze zu ergattern. Die Hinrichtung sollte nach dem Mittagsläuten erfolgen, bis dahin war es keine halbe Stunde mehr.
    Als der Wagen mit dem Scharfrichter auf den gepflasterten Platz rollte, hörte die Musik auf zu spielen. Jemandschrie: »Na, Henker! Hast dein Schwert geschärft? Vielleicht magst sie ja heiraten?« Die Menge johlte. Zwar gab es auch in Schongau den Brauch, dass der Scharfrichter die Delinquentin verschonen konnte, wenn sie ihn ehelichte. Doch Johannes Kuisl hatte bereits eine Frau. Und Katharina Kuisl galt nicht gerade als sanftmütig. Als Tochter des berüchtigten Scharfrichters Jörg Abriel wurde sie auch Bluttochter oder Satansweib genannt.
    Der Wagen rollte über den Marktplatz am Ballenhaus vorbei und hielt auf die Stadtmauer zu. Ein hoher, dreistöckiger Turm ragte hier auf; die Außenwand rußig, die Fenster klein wie Schießscharten, mit Gittern davor. Der Henker schulterte sein Schwert und stieg vom Wagen ab. Dann begaben sich Vater und Sohn durch das steinerne Portal ins kühle Innere der Fronfeste.
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