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Die Henkerstochter

Titel: Die Henkerstochter
Autoren: Oliver P�tzsch
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prüfend ansah. Mit diesem nachdenklichen Blick, mit dem sie bis heute ihre gesamte Familie aus mittlerweile über zwanzig Nachkommen in Kuisls und Nicht-Kuisls einteilt. Ich war mir damals nicht sicher, ob dieses Kuisl etwas Gutes oder Schlechtes war. Es klang wie eine Eigenschaft, eine seltene Haarfarbe oder ein Adjektiv, das ich noch nicht kannte.
    Als kuislisch gelten in unserer Familie seit jeher äußerliche Merkmale wie Hakennase, starke dunkle Augenbrauen, athletischer Körperbau und kräftiger Haarwuchs, aber auch das musikalisch-künstlerische Talent unserer Familie sowie eine sensible, fast nervöse Ader. Darunter fällt auch die Kontaktarmut, der Hang zum Suff und eine gewisse düstere Melancholie. In der Kuisl-Beschreibung, die uns der Cousin meiner Großmutter, ein begeisterter Hobby-Ahnenforscher, hinterlassen hat, heißt es unter anderem: »Gebogene Fingernägel (Krallen)« und »rührselig, doch mitunter brutal«. Alles in allem also nicht gerade eine sympathische Erscheinung, aber man kann sich seine Familie eben nicht aussuchen …Der Cousin meiner Großmutter war es auch, der mich dann viel später auf das Thema der Scharfrichterei brachte. Ich war Anfang zwanzig, als eines Tages bei uns zu Hause ein Stapel vergilbter Papiere auf dem Tisch lag. Zerfledderte, dicht mit Schreibmaschine beschriebene Seiten, auf denen Fritz Kuisl alles über unsere Ahnen zusammengetragen hatte. Darunter fanden sich Schwarz-Weiß-Fotos von Folterinstrumenten und dem Kuisl-Richtschwert (das in den 70ern aus dem Schongauer Heimatmuseum gestohlen wurde und nie wieder auftauchte), ein 200 Jahre alter Meisterbrief, ausgestellt auf meinen Vorfahr, den letzten Schongauer Henker Johann Michael Kuisl, abgetippte Zeitungsartikel und ein meterlanger, handgeschriebener Stammbaum. Ich hörte von den Zauberbüchern meines Urahnen Jörg Abriel, die noch immer in der Bayerischen Staatsbibliothek verwahrt sein sollen, und erfuhr, dass die Kuisl-Dynastie eine der berühmtesten Henkersdynastien in Bayern gewesen war. Allein beim Schongauer Hexenprozess von 1589 gingen vermutlich über 60 Hinrichtungen auf das Konto meines blutigen Vorfahren.
    Die Geschichte meiner Familie hat mich seitdem nie mehr losgelassen. Als Fritz Kuisl vor einigen Jahren starb, ließ mich seine Frau Rita in sein Allerheiligstes: ein enges Arbeitszimmer, bis zur Decke vollgestellt mit verstaubten Aktenordnern und Büchern über die Henkerei. In dem winzigen Raum stapelten sich Kisten voll mit Stammbäumen und kopierten Kirchenbüchern, teilweise aus dem 1 6. Jahrhundert. An den Wänden hingen verblichene Photographien und die Gemälde längst verstorbener Ahnen. Auf Tausenden von Karteikarten hatte Fritz Kuisl Verwandte aufgelistet! Name, Beruf, Geburtsdatum, Sterbedatum …Auf einer Karteikarte stand mein Name, auf einer anderen der meines Sohnes, der ein Jahr zuvor auf die Welt gekommen war. Rita Kuisl hatte den Namen nach dem Tod ihres Mannes noch hineingeschrieben.
    Das Ende der Linie.
    Mich überkam beim Anblick all dessen ein leichtes Gruseln, aber auch ein Gefühl von Heimat. So als würde mich eine große Gemeinschaft in ihren Kreis aufnehmen. Die Ahnenforschung ist in den letzten Jahren immer populärer geworden. Vielleicht liegt ein Grund darin, dass wir versuchen, uns in einer immer komplizierter gewordenen Welt ein überschaubares Zuhause zu schaffen. Wir wachsen nicht mehr in großen Familien auf. Der Mensch empfindet sich immer mehr als entfremdet, austauschbar und vergänglich. Die Ahnenforschung gibt ihm das Gefühl von Unsterblichkeit. Der Einzelne stirbt, die Sippe lebt weiter.
    Mittlerweile erzähle ich meinem siebenjährigen Sohn von seinen merkwürdigen Vorfahren. Die blutigen Details lasse ich dabei weg. (Für ihn sind sie wohl so eine Art Ritter, was ja auch besser klingt als Henker oder Scharfrichter.) In seinem Kinderzimmer hängt eine Collage von Fotos längst verstorbener Verwandter. Urgroßeltern, Ururgroßeltern, deren Tanten, Onkel, Nichten, Neffen … Manchmal möchte er abends die Geschichten zu diesen Menschen wissen, und ich erzähle ihm, was ich von ihnen weiß. Schöne Geschichten, traurige Geschichten, gruselige Geschichten. Für ihn ist die Familie ein sicherer Hort, ein Band, das ihn mit vielen Menschen verbindet, die er liebt und die ihn lieben. Ich habe mal gehört, dass über sieben Ecken auf dieser Erde jeder mit jedem verwandt ist. Irgendwie eine tröstliche Vorstellung.
     
    Dieses Buch ist ein Roman und keine
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