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Die Hebamme von Venedig

Die Hebamme von Venedig

Titel: Die Hebamme von Venedig
Autoren: Roberta Rich
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worden war. Der Wärter trieb ihn die Stufen hinauf.
    Isaaks Augen hatten sich mittlerweile an das helle Licht gewöhnt, und er ließ den Blick über die Menge gleiten, die sich um die Plattform drängte. Die Männer – Frauen gab es nur wenige – reckten die Hälse, um ihn, Simón und die anderen Gefangenen von der Dogaressa in Augenschein zu nehmen. In der Ferne, hinter den Befestigungsanlagen von Sant Elmo, lagen zahlreiche Schiffe vertäut.
    Eine grobe Hand stieß ihn nach vorn, und eine Stimme pries ihn der Menge an. Der Mann sprach Maltesisch, eine primitive Mischung aus Italienisch, Sizilianisch und Arabisch, die Isaak, nachdem er wochenlang den Wachen bei ihren Gesprächen zugehört hatte, langsam verstand.
    »Wer macht ein Angebot für diesen Juden? Fünfunddreißig Jahre alt, mehr oder weniger, arbeitsfähig, keine Cholera oder Rachitis.« Der Auktionator klopfte ihm mit einem Stock auf Rücken und Beine, und Isaak, dessen Füße geschwollen und wund waren, nachdem er vor zwei Tagen fünfzig Schläge auf die Fußsohlen erhalten hatte, stolperte ein Stück vor. Einer der Wärter fing ihn auf und brachte ihn wieder in Position. Der Auktionator gab seinem Helfer den Stock und sagte zu Isaak: »Mach den Mund auf, damit wir uns deine Zähne ansehen können.« Er packte ihn beim Kiefer und fuhr ihm mit seinem verdreckten Finger durch den Mund, wandte sich der Menge zu und verkündete: »Der Junge hat ein paar beeindruckende Kauwerkzeuge, weiß und fest. Wer kann das schon von sich behaupten?« Er grinste und ließ eine mächtige Lücke im eigenen Gebiss sehen. Die Menge brach in Gelächter aus. »Wer Zähne hat, kann essen, und wer essen kann, kann arbeiten.« Der Auktionator befühlte Isaaks Arme und Beine. »Keine Brüche, keine Verrenkungen, keine Risse, keine Gelenkstarre.« Mit einer Geste bedeutete er Isaak, seine Hände zu zeigen, die er sorgfältig betrachtete. »Feine, zarte Hände, keine Schwielen. Der Junge ist ein Händler oder feiner Pinkel, der dem Orden ein gutes Lösegeld bringen wird. Aber bis dahin wird sich der glückliche Käufer seiner Dienste erfreuen können.«
    Die Sonne heizte die Eisenschelle um Isaaks Fuß zu einem Feuerring auf. Er hörte einen untersetzten Mann aus der Menge rufen: »Sag ihm, er soll das Hemd ausziehen! Ich will sehen, ob er stark genug für mich ist!« Das Gesicht des Mannes war mit Pockennarben übersät, und ein Goldzahn blitzte in der Sonne auf.
    Isaak hatte von seinen Mitgefangenen Geschichten über Bauern gehört, die ihre Männer wie Zugtiere vor Pflüge spannten und sie sich zu Tode arbeiten ließen. Bitte, lieber Gott , betete er, bei allem, was heilig ist, nicht auf einen Bauernhof . Der Auktionator nickte ihm zu, damit er der Aufforderung nachkam. Eigentlich war es nicht nötig, das Hemd auszuziehen, es bestand sowieso nur noch aus Fetzen und Isaaks Arme sowie seine muskulöse Brust leuchteten durch Risse und Löcher, dennoch zog er sich den ärmlichen Rest über den Kopf.
    Der Mann nickte zustimmend, fragte dann aber: »Wenn er ein Jude ist, wo ist dann sein Bart?«
    Isaak fasste sich ans Kinn. Er hatte einen Bart gehabt, seit ihm einer gewachsen war. Alle Juden trugen ihn, denn so stand es in der Thora: Der Schmuck eines Männergesichts sei der Bart. Jetzt fühlte sich sein Gesicht verletzlich wie das eines Babys an. Als er auf Malta angekommen war, hatte einer der Gefängniswärter darauf bestanden, dass er sich rasierte. »Wegen der Läuse«, erklärte der Barbier, der ihm Schädel und Gesicht mit einem stumpfen Rasiermesser schor. Kinn und Wangen waren hinterher voller blutiger Striemen gewesen, und als der Bart wieder spross, wurde die Prozedur wiederholt.
    Der Gefängnisbeamte hatte ihm alles abgenommen, seine zusätzlichen Kleider, seinen Gebetsschal und seine tausend Dukaten, mit denen er in Konstantinopel Kardamom und Gewürznelken hatte kaufen wollen, alles bis auf ein winziges Stoffsäckchen, nicht größer als eine Walnussschale und gefüllt mit Eiern des Bombyx mori , des geschätzten Seidenspinners. Ein Gefangener auf dem Schiff, ein alter Türke, der wusste, er würde kein festes Land mehr unter die Füße bekommen, hatte Isaak das Säckchen in die Hand gedrückt und ihn gebeten, im Austausch dafür einen Brief an seine Frau in Konstantinopel zu schreiben. Isaak hatte das Säckchen im Hemd eines toten Gefangenen versteckt, den sie verfaulen ließen. Ein paar Tage später nahm er es wieder an sich, gerade rechtzeitig, bevor die Malteser den
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