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Die Hassliste: Roman (German Edition)

Die Hassliste: Roman (German Edition)

Titel: Die Hassliste: Roman (German Edition)
Autoren: Jennifer Brown
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eine Handtasche in der Größe eines kleinen Koffers vor sich auf den Knien, natürlich ebenfalls in Purpur. Bea lachte mich an, sie sah heiter und schön aus, wie eine Frau auf einem Gemälde.
    Angerson erhob sich und bat um Ruhe, damit die Feier beginnen konnte. Er hielt eine kurze Ansprache, in der es um Beharrlichkeit ging, aber offenbar wusste er nicht recht, was er über diesen Jahrgang sagen sollte. Alle üblichen Floskeln waren hier fehl am Platz. Wie sollte er über die Zukunft sprechen, wenn auch Eltern anwesendwaren, die ganz in der Vergangenheit lebten, deren Hoffnungen auf die Zukunft ihrer Söhne und Töchter sich in Nichts aufgelöst hatten, deren Kinder seit mehr als einem Jahr weg waren und nie mehr zurückkommen würden? Was konnte er uns andern sagen, die wir gezeichnet waren von dem, was in dieser Schule passiert war? Es würde keine unbeschwerten Erinnerungen geben – sie waren für immer dunkel verfärbt. Und wohl auch keine Klassentreffen – sie würden alle viel zu sehr aufwühlen.
    Bald übergab Angerson das Wort an Jessica, die sich selbstsicher erhob und die Treppe des Rednerpults hinaufstieg. Mit ausgeglichener und ruhiger Stimme sprach sie übers College und die akademische Welt – eher nüchterne Dinge, die keine Tränen der Rührung hervorrufen würden. Doch dann zögerte sie und senkte den Kopf auf den Stapel Papier in ihren Händen.
    Die Pause dauerte so lange, dass die Leute zu husten begannen und zappelig wurden; Unbehagen machte sich breit. Es sah fast aus, als würde Jessica beten, und wer weiß, vielleicht tat sie das sogar. Angerson wurde nervös und war offenbar kurz davor, hochzugehen und sie anzutreiben oder sie von der Bühne zu führen. Als sie endlich wieder aufsah, hatte sich ihr Gesicht verändert. Aus der resoluten Schülersprecherin war das Mädchen geworden, das meinen Arm berührt hatte, als Christy Bruters Vater über Vergebung sprach.
    »Unser Jahrgang«, begann Jessica, »wird für immer geprägt sein von einem Datum. Dem zweiten Mai 2008.   Niemand aus diesem Jahrgang wird je an diesen Tag denken können, ohne sich an jemanden zu erinnern, den er sehr mochte und der jetzt nicht mehr da ist. Ohne sich andas zu erinnern, was er an diesem Morgen gesehen und gehört hat. Ohne sich an den Schmerz zu erinnern, an Trauer, Verlust und Verwirrung. Ohne an Vergebung zu denken. Uns einfach nur zu erinnern wird immer wichtig sein. Wir, der Schülerrat des Jahrgangs von 2009, widmen unserer Schule deshalb einen Ort des Gedenkens   …« Ihre Stimme brach bei diesem Wort, sie hielt inne und senkte wieder den Kopf, bemüht, sich zusammenzureißen. Als sie aufblickte, war ihre Nase tiefrot und ihre Stimme zitterte. »…   an die Opfer dieses Tages. Wir werden sie niemals vergessen.«
    Meghan stand auf und ging hinüber zu einer Erhebung im Gras dicht bei der Bühne, die mit einem Tuch verhüllt war. Sie nahm das Tuch und zog es weg. Eine Sitzbank aus Beton, deren helles Grau fast blendete, stand über einem Loch im Boden, das in etwa die Größe eines Fernsehapparats hatte. An dem Loch war frische Erde aufgehäuft und daneben stand eine Metallkiste mit geöffnetem Deckel – die Zeitkapsel. Von meinem Platz aus konnte ich erkennen, dass die Kiste fast ganz gefüllt war mit den unterschiedlichsten Gegenständen: Fransen von Cheerleader-Pompons, Plüschwürfeln, Fotos und so weiter.
    Jessica nickte mir zu und ich stand auf. Meine Beine waren wie Gummi, als ich die Treppe zum Rednerpult hochkletterte. Jessica machte mir Platz, als ich näher kam, aber bei meinen letzten Schritten stürzte sie auf mich zu und schlang ihre Arme um mich. Ich ließ es zu und spürte die Hitze ihres Körpers durch meinen Talar, der dadurch noch mehr klebte. Aber das war mir egal.
    Ich erinnerte mich daran, wie sie an dem Tag, als ich mich aus dem Projekt zurückgezogen hatte, hinter mirhergelaufen war. Sie hatte geweint und verzweifelt die Hand aufs Herz gelegt, ihre Stimme aber hatte voll und stark geklungen.
Ich habe überlebt und das hat alles verändert
, hatte sie gesagt. Damals hatte ich sie für verrückt erklärt, aber jetzt, als ich bei der Abschlussfeier mit ihr auf der Bühne stand und wir uns im Bewusstsein aneinander festhielten, dass unser Projekt abgeschlossen war, begriff ich, was sie damals gemeint hatte – und sie hatte recht gehabt. Dieser Tag hatte alles verändert. Wir waren Freundinnen geworden, nicht weil wir das so gewollt hatten, sondern weil es notwendig gewesen war. Es
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