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Die Haischwimmerin

Die Haischwimmerin

Titel: Die Haischwimmerin
Autoren: Heinrich Steinfest
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Orten und in solchen Positionen also in einer Weise erscheinen, die sie, sodann von vorn gesehen, ohne Sportwagen, ohne Taucheranzug, ohne die Strahlkraft medialer Räume und prachtvoller Musikinstrumente, nicht mehr erfüllen. Jetzt ganz zu schweigen von denen, die im Smoking so toll ausschauen und in der Unterhose so deprimierend.
    Darum war es Ivo sehr recht, in den nächsten Wochen dieser Frau, die Lilli Steinbeck hieß, aber von allen hier nur noch Lil genannt wurde, ausschließlich an den Nachmittagen und Abenden zu begegnen, in Person des blinden Mannes, der er dann zu sein pflegte. Vormittags waren seine Freunde ja mit ihren universitären Angelegenheiten beschäftigt oder gaben dies wenigstens vor, während er selbst, der auf Eis gelegte Weltenbummler, die frühen Stunden dazu nutzte, zunächst einmal ausgiebig zu frühstücken.
    Nicht, daß seine Eltern es gut fanden, einen Taugenichts zum Sohn zu haben, der nicht einmal bereit war, sich mittels eines Studiums oder einer künstlerischen Karriere eine Tarnung zu verleihen. Andererseits waren sie derart in ihre geschäftlichen Aktivitäten eingesponnen, daß sie keine Zeit fanden, ihn aus der Wohnung zu werfen und die monatlichen Zuwendungen zu streichen. Vielleicht scheuten sie auch die Konfrontation mit ihrem mißratenen Kind.
    Jeden Tag nach dem Frühstück studierte Ivo die Karten der entlegenen Gegenden, die er demnächst bereisen wollte. Mittags erblindete er, und nachmittags saß er im Café. Wo es für ihn keine größere Freude gab, als Lils Stimme zu hören und im Geiste ihre helle, marianische, ihre gotische Erscheinung zu betrachten: das Langhalsige, das Gestreckte, die plastikhafte Zartheit, das Weißliche ihrer Haut, ihren insgesamt skulpturalen Ausdruck.
    Es lag für Ivo Berg überhaupt kein Widerspruch darin, daß diese Frau, deren Aussehen er mit dem sogenannten »weichen Stil« der Kunst um 1400 in Verbindung brachte, allein deshalb nach Rom gekommen war, um an diesem Ort ihre kriminologischen Studien fortzusetzen, die sie an der Katholischen Universität von Mailand begonnen hatte. Lil schrieb eine Arbeit über »System, Nährboden und stammesgeschichtliche Einordnung von Entführungsdelikten« und untersuchte dabei die gesellschaftlichen Strukturen, die das gewerbsmäßige Kidnappen von Menschen begünstigten. Daß sie sich zu diesem Zweck in Italien immatrikuliert hatte, braucht nun wirklich niemand zu erstaunen. Wobei ihr die italienischen Verhältnisse nur als Modell dienten, um eine gesamteuropäische Entwicklung zu analysieren und eine Parallele zu mehr oder weniger legalen ökonomischen Prozessen herzustellen. Sie war eine Anhängerin der Anschauung, daß in allem – ob beim Verkauf von Hühnerfleisch oder beim Verkauf von Menschenleben – der gleiche Wurm steckte und man folglich eine korrekte systematische Einordnung dieses Wurms und seiner Varianten vornehmen mußte. Sie erklärte in der Tat gerne, eine »biologische Kriminologie« zu betreiben, den Begriff des Stammesgeschichtlichen also nicht nur ethnologisch, sondern auch in einem evolutionären Sinn zu verstehen. Wie Lil überhaupt das Verbrechen als Teil des Natürlichen empfand. Nicht minder freilich die Arbeit der Polizei und der Justiz. Sie nannte es den »Kampf der Gene«. Der »ideale Polizist« erschien als Antwort auf einen Krankheitserreger und bildete den militärischen Arm der Moralität. Während wiederum die korrupten Teile der Exekutive, die korrupten Teile der Justiz von der Kraft jener Erbfaktoren zeugten, die das Verbrechen hervorbrachten und bei denen es sich natürlich um die ursprünglicheren handelte. Man konnte gewissermaßen sagen, der Mensch stamme nicht vom Affen, sondern vom Verbrechen ab.
    Was auch immer Lil da ausbrütete, Ivo fand es so betörend wie logisch, daß diese »Madonna«, die da im Dunkel seines Kopfes weißlich glühte, sich mit derartigen Themen beschäftigte. Daß also ausgerechnet sie die Abgründe des Lebens erforschte, anstatt wie die meisten anderen aus der Studentengruppe Kunstgeschichte oder ähnliches zu studieren. Nun, Lil selbst war ja ein Kunstwerk und hätte also sich selbst studieren müssen, was aber Kunstwerke nicht tun. Eine Madonna schaut sich nicht in den Spiegel, sie ist der Spiegel. Daß Lil sich mit dem Elend dieser Welt
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