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Die Haischwimmerin

Die Haischwimmerin

Titel: Die Haischwimmerin
Autoren: Heinrich Steinfest
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und jetzt dafür bestraft werden.
    Â 
    Er konnte bereits aus der Entfernung feststellen, welche von seinen Bekannten hier am Tisch saßen, beziehungsweise bemerkte er die eine Stimme, die neu war, bevor noch jemand auf die Idee kam, ihm die Person vorzustellen, die zu dieser Stimme gehörte.
    Im Dunkel seiner heruntergelassenen Augenlider erkannte Ivo das milde, flammenartige Licht dieser einen Stimme. Mild, aber Licht genug, um die Dunkelheit aufzuhellen, während alle anderen Stimmen, da mochten sie noch so kräftig oder laut sein, die Wirkung einer schwarzen Feder inmitten eines Krähenvogels besaßen.
    Â»Ivo, das ist Lilli, eine Freundin aus Wien, sie ist gerade angekommen«, sagte die Frau, die von allen Joe genannt wurde, nicht, weil sie wirklich so hieß, sondern weil es zu den Prinzipien dieser Clique gehörte, daß jeder seinen Namen auf drei Buchstaben verkürzte oder, wenn das nicht ging, sich einen neuen, eben dreiletterigen Namen aussuchte.
    Ivo hatte den Vorteil, schon immer so geheißen zu haben.
    Â»Lil also«, sagte er.
    Â»Richtig«, sagte die Frau, die Lilli hieß und die offensichtlich besagte Regel bereits kannte.
    Dann gab sie ihm die Hand. Das ist wörtlich zu nehmen. Sie gab sie ihm wirklich. So daß er den Eindruck hatte, eine ganze Weile nur allein diese eine Hand zu halten und sich auf eine Weise damit vertraut machen zu können, die geeignet war, von der Hand auf den Rest schließen zu lassen, von den dünnen, langen, sehr geraden Fingern auf einen ebensolchen Körper, ebensolche Gesichtszüge, ein ebensolches Wesen. Finger, die sich weniger nach Fleisch und Knochen und Sehnen, nach dieser Angespanntheit alles Körperlichen anfühlten, sondern eher nach Kunststoff, aber dem feinsten und ausgeklügeltsten, der sich denken läßt. In diesem ersten Moment fühlte sich Ivo an eine lebendig gewordene Schaufensterpuppe erinnert, an eine Figur aus Plastik, die ein vergnügter Gott erweckt hatte, ohne jedoch die Vorteile des Plastiks zu opfern, seine chemische und sonstige Beständigkeit, seine Elastizität, seine Härte, seine Modernität, seinen hohen Entwicklungsstand. Zudem lag ein beträchtliches Empfinden in diesem unempfindlichen Stoff. Schon möglich, daß dieser Frau weder große Kälte noch große Wärme etwas anhaben konnten, aber sie war durchaus empfänglich dafür, wie da jemand ihre Hand festhielt.
    Im konkreten Fall viel zu lange natürlich, was nur darum funktionierte, weil Ivo praktisch als blind gelten durfte. Und es ist nun mal weitgehend akzeptiert, wenn Blinde die Hände ihrer Gegenüber intensiver befühlen, um sich nämlich ein Bild zu machen, wo ein Bild fehlt.
    Andererseits war Ivo Berg kein netter alter Mann mit drei gelben Punkten am Oberarm, der sich alles herausnehmen durfte, was er für nötig hielt. Es wäre unhöflich gewesen, diese Hand nicht mehr herausrücken zu wollen. Darum zeigte er sich einsichtig, löste seinen Griff und gab der Frau ihre fünf Finger zurück.
    Man kann sagen: Ivo Berg war sofort verliebt.
    Allerdings nicht ganz frei von Zweifeln. Wobei sich der Zweifel in keiner Weise auf das eigene Verliebtsein bezog, sondern das Aussehen der Frau betraf, von der er ja nur die Stimme sowie ihre auf eine warme Weise kalte Plastikhand kannte. Aus der kleinen Flamme, die in der Dunkelheit seines Betrachtens flackerte, war die schlanke Gestalt einer Person erwachsen, deren Vorstellung ihm einen Stich ins Herz versetzte.
    So ein Stich ist nicht ohne. Man blutet nachher ziemlich stark, kann sich aber gleichzeitig nichts Schöneres im Leben denken als dieses Bluten, dieses geöffnete Herz. Mit einem Pfeil hat das nichts zu tun. Das Loch im Herzen tötet einen nicht, eher bringt es einen auf die Welt.
    Wäre Ivo dazu in der Lage gewesen, hätte er jetzt die Augen aufgeschlagen wie soeben geboren.
    Dann aber kam ihm der Gedanke, ob es nicht viel besser wäre, tatsächlich blind zu sein, und zwar für alle Zeiten. Um nämlich diese Frau niemals in natura sehen zu müssen. Denn Ivo hätte sich gerne erspart, feststellen zu müssen, wie wenig seine von einer Flamme getragene Einbildungskraft mit der Realität übereinstimmte. – Man kennt das von Leuten, die von hinten betrachtet, in ihrem Sportwagen sitzend, in ihrem Taucheranzug, inmitten eines Fernsehstudios, über ein Klavier gebeugt, an solchen
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