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Die Haischwimmerin

Die Haischwimmerin

Titel: Die Haischwimmerin
Autoren: Heinrich Steinfest
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auseinandersetzte, und zwar nicht in einer rührseligen Weltrettermanier, sondern wissenschaftlich und kalt und analytisch, machte sie perfekt.
    Doch dann passierte, was Ivo so gefürchtet hatte: Er wurde gesund.
    Im ersten Moment bemerkte er es gar nicht, weil er ja starke Sonnenbrillen trug und sich praktisch eine Überschneidung des Bildes in seinem Kopf mit dem Bild der Realität ergab. Nur daß natürlich die Lil, die jetzt hinter den eingefärbten Gläsern zu erkennen war, weniger hell erschien als jene in seiner Einbildung.
    Als Ivo begriff, was geschehen war, reagierte er auf das ungewollte Öffnen seiner Lider, indem er sie sofort wieder schloß. Doch eine Lösung war das nicht, und darum erschien er bereits am nächsten Tag ohne Brille, erschien sehenden Auges, wobei ihm vorkam, als würde nicht er Lil zum ersten Mal zu Gesicht bekommen, sondern als verhalte es sich genau umgekehrt. Als hätte erst seine Heilung bewirkt, für alle sichtbar zu werden und nicht nur aus einer übergroßen Sonnenbrille zu bestehen.
    In jedem Fall war es so, daß Lils Aussehen durchaus mit dem übereinstimmte, was ihre Stimme und die Information ihrer Hand suggeriert hatten. Nur, daß sie nun angezogen vor Ivo stand, modisch gekleidet, während sie in seiner Einbildung ohne Kleidung gewesen war, zwar nicht nackt im herkömmlichen Sinne, sondern eben unangezogen , was ein Unterschied ist, wenngleich ein schwer erklärbarer.
    Gar keine Frage, Lil war die bestgekleidete Frau, die Ivo je gesehen hatte, und würde es auch für immer bleiben. Dabei hatte sie zu dieser Zeit noch gar nicht das Geld, sich Designerkostüme zu leisten. Aber woher auch immer diese Kleider und Blusen und hohen, leichten Schuhe, diese Handtaschen und Tücher und dieser einfache, aber elegante Schmuck herstammten, wer auch immer all das vorher getragen haben mochte, an Lil wirkten die Stoffe und Gegenstände wie aus ihr herausgewachsen, als ein kreatürlicher Teil ihrer Schönheit. – Bei einer Madonna aus Sandstein ist ja nicht nur die Haut aus Sandstein, sondern ebenso das Kleid, der Umhang sowie das Christuskind in ihren Armen.
    Â 
    Die Enttäuschung, die sich nun für Ivo ergab, betraf seine eigene Person. Er spürte deutlich, wie sehr seine völlige Gesundung auch eine beträchtliche Einbuße mit sich brachte. Denn auch wenn behauptet wird, Frauen würden vor allem anderen durch ihr Aussehen, ihre optischen Merkmale bestechen wollen, dürfte noch viel mehr der Umstand gelten, daß sie am liebsten von Männern bewundert werden, die sie gar nicht sehen können. Jedenfalls meinte Ivo bei sämtlichen weiblichen Mitgliedern seiner Clique eine gewisse Ernüchterung festzustellen. So wie umgekehrt bei den Männern eine Erleichterung. Endlich war wieder Waffengleichheit hergestellt. Ivo war auf seine Basis zurückgeworfen worden, auf den simplen Umstand, ein hübscher Kerl zu sein, der mit Hilfe von ein paar Retuschen gewiß auf einem Unterwäschebild von Calvin Klein hätte posieren können. Aber da war er eben nicht der einzige. Sosehr ein Waschbrettbauch zum gängigen Schönheitsbild dazugehören mag, er besitzt keine Aura, keinen Geist, keine Seele. Ja, so ein Bauch fühlt sich nicht einmal gut an, sondern in der Tat wie ein Waschbrett, also ein Gerät, das weniger mit den fröhlichen Gesängen der Wäscherinnen am kristallklaren Bächlein assoziiert wird als mit der deprimierenden Plackerei einer waschmaschinenlosen Epoche.
    Solange Ivo blind gewesen war, hatte Lil ihn wie einen richtigen Mann behandelt, in einer Weise mit ihm gesprochen, als würde er über faktische Lebenserfahrung und Lebensklugheit verfügen. Als wäre seine pakistanische Erkrankung ein Ausdruck seines Weltbürgertums, seiner Reife, ja entspräche einer absichtsvoll herbeigeführten Todesnähe. – Das ist vielleicht überhaupt der Punkt: Daß nämlich Männer für Frauen anziehend wirken, indem sie mit dem Tod in Verbindung stehen.
    Blind sein und dem Tod nahe. Das ist es!
    Leider war beides nun dahin, und so stand Ivo recht unverbrämt im matten Schein seiner calvinkleinistischen Zweiundzwanzigjährigkeit.
    Â 
    Hatte er in den Monaten zuvor unter großer Müdigkeit gelitten, fiel es ihm nun schwer, ins Bett und in den Schlaf zu finden. Und so ergab es sich einmal, daß Lil und Ivo als die letzten aus ihrer Runde in
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