Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Haischwimmerin

Die Haischwimmerin

Titel: Die Haischwimmerin
Autoren: Heinrich Steinfest
Vom Netzwerk:
einen Röntgenblick, mit dem sie nicht nur durch schwärzeste Sonnenbrillen sehen können, sondern eben auch durch geschlossene Lider. Kein trauriges Männerauge entgeht einer schauenden Frau.
    Â 
    In dieser Zeit in Rom gehörte Ivo zu einer Clique deutschsprachiger Studenten, die, mit Stipendien ausgestattet, ihre Gastsemester absolvierten und jene Leichtigkeit genossen, die ihnen an Orten wie Wien oder Klagenfurt oder München oder Zürich bislang verwehrt geblieben war. Zumindest wirkten sie alle sehr ausgelassen, beschwingt und tänzerisch, auf eine Weise betrunken, daß man schwer sagen konnte, wovon eigentlich. Vielleicht vom Alkohol, vielleicht auch von der Luft in den Straßen, die mit dubiosen, bewußtseinsverändernden Giftstoffen angereichert schien. In der Tat, wenn man sich ein bißchen übergeschnappt fühlen wollte, ging man einfach nach draußen und atmete tief ein. Es waren nicht nur die Abgase, sondern … vielleicht das Zeug, das vom Vatikan herübergeweht kam. Und wirklich meinten einige, dies würde von den exorzistischen Praktiken, von den vielen Kräutern, die man dort verbrannte, herrühren. Egal, die römische Luft hatte es jedenfalls in sich.
    Ivo selbst war kein Student, sondern lebte hier nur, weil seine Eltern es taten. Steiermärker, die nach Wien und dann nach Rom gegangen waren, um ein Import-Export-Geschäft zu betreiben. Ivo würde niemals richtig sagen können, was da eigentlich importiert und exportiert wurde. Für ihn standen seine Eltern ein Leben lang hinter einem Schleier … nein, Schleier ist ein viel zu poetisches Wort. Die beiden waren keine Schleierleute. Daß ihre Gestalt und ihr Wesen sowie ihr Import und Export so unklar blieben, war dem Stahlbeton zu verdanken, hinter dem sie sich stets aufzuhalten pflegten.
    Ivos Vorhaben hingegen bestand darin, als weltreisender Forscher in die Geschichte einzugehen, ohne sich zuvor die Mühen einer akademischen Ausbildung angetan zu haben. Es ging ihm ja nicht darum, eine ethnologische Studie zu verfassen. Er war überzeugt davon, fast alles im Leben sei eine Sache des Instinkts, der Eingebung, nicht zuletzt des Mutes, der Entschlossenheit, Dinge zu tun, die andere für absurd oder kindisch hielten. Sein Plan gipfelte jedenfalls darin, irgendwann einmal auf etwas Unbekanntes zu stoßen, am liebsten ein Tier, das noch nie jemand gesehen hatte, oder ein mysteriöses Artefakt. – Nun, immerhin hatte er es bereits zu einer recht unspezifischen Krankheit gebracht, was aber leider nicht ausreichte, sich einen Namen zu machen. Es sind zumeist die Ärzte, nach denen Krankheiten benannt werden, nicht die Patienten. Was eigentlich ein Skandal ist.
    An diesem Tag gegen Ende des Sommers, als in der Luft der Anteil an vatikanischen Substanzen seinen Höhepunkt erreichte, hing Ivo am Arm einer Freundin und ließ sich von ihr in eins der bevorzugten Cafés führen. Welches natürlich an einer stark befahrenen Straße gelegen war, des bewußtseinserweiternden Gestanks wegen. Es war Nachmittag, und Ivo hätte eine Zange benötigt, um seine Augen aufzukriegen.
    Ob ihm das nun recht war oder nicht, sein Gehör war in dieser Zeit natürlich besser und besser geworden. Es fungierte als der Blindenstock in seinem Kopf, der die Stimmen und Geräusche abklopfte und die ganz bestimmte Konsistenz und Zusammensetzung des jeweiligen »Objekts« erkannte. Nicht, daß Ivo begann, am Auspuffgeräusch die Automarken auseinanderzuhalten, aber er registrierte früher als andere, wenn etwa zwei Leute demnächst zusammenstießen. Er hörte ihre Schritte und sah vor seinem geistigen Auge die aufeinandertreffenden, in der Kollision sich vereinigenden Linien. Manchmal sagte er »Vorsicht!« oder eben »Attenzione!«, aber wenn er dies tat, verhinderte er in der Regel den Zusammenstoß. Die Leute blieben also stehen, starrten ihn an und fragten sich, was mit ihm los sei. Er spürte diese fragenden Blicke. – So ist das, wenn man ein Unglück voraussieht. Darum läßt man es meistens bleiben. So, wie man es ja auch bleiben läßt, einen Tyrannen zu morden, bevor der noch zum Tyrannen wird. Täte man es doch, niemand würde einen verstehen. Leute, die zur rechten Zeit ein Unglück verhindern, stehen im Verdacht, verrückt zu sein. Die Irrenhäuser sind voll mit Leuten, die ein Unglück verhindert haben
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher