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Die guten Frauen von Christianssund: Sommerdahls erster Fall (German Edition)

Die guten Frauen von Christianssund: Sommerdahls erster Fall (German Edition)

Titel: Die guten Frauen von Christianssund: Sommerdahls erster Fall (German Edition)
Autoren: Anna Grue
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vergehen, bevor andere bemerkten, dass etwas nicht in Ordnung war. Erst im Laufe des Vormittags begannen die Kollegen des Toten, sich zu wundern; so spät kam Mikael normalerweise nie zur Arbeit, hieß es. Sie wiederholten den Satz gegenüber ihrer Chefin, die in immer kürzeren Intervallen ihren Kopf in das Großraumbüro steckte und nach dem jungen Mitarbeiter fragte. Um halb elf hatte Mikaels engste Kollegin mehrfach vergeblich versucht, ihn zu erreichen – sowohl auf dem Festnetz wie auf seinem Mobiltelefon. Sie ging zur Direktorin.
    »Mir gefällt das nicht«, sagte Lotte.
    »Mir auch nicht«, erwiderte die Chefin. »Kannst du nicht hinfahren und nachsehen, ob alles okay ist?« In einem sanften Bogen warf sie einen Autoschlüssel über den Schreibtisch. »Wenn er nicht zu Hause ist, müssen wir bei den Krankenhäusern nachfragen.«
    Lotte ging zum Parkplatz, auf dem ein kleiner dunkelblauer Personenwagen mit dem Logo und dem Slogan der Firma stand. Es war nur eine kurze Strecke bis Balleslev am östlichen Ende von Christianssund. Ein friedliches Viertel, in dem sich große, gelb geklinkerte Häuser mit Reihenhäusern hinter weiß lackierten Metallzäunen abwechselten. Das Viertel war überladen mit Immergrün, Thuja, Tannen, Taxus … Irgendwann in den Sechzigern, als die Leute in die neu gebauten Häuser zogen, hatte man sie als nette kleine Büsche gepflanzt, jetzt waren sie zu bedrohlichen Monstern herangewachsen, die nahezu jeden Sonnenstrahl abschirmten. Lotte parkte vor einem der Reihenhäuser am Kiplings Vænge; am Zaun hing ein kobaltblauer Briefkasten. Sie musste nicht auf das Namensschild sehen, sie war schon einmal hier gewesen; vor ein paar Monaten hatte sie Mikael abgeholt, um mit ihm zu einem zweitägigen Seminar ins Hotel Nyborg Strand zu fahren. Er hatte einen etwas verlegenen Eindruck gemacht, weil er noch immer zu Hause bei seiner Mutter wohnte. Mit Recht, dachte sie jetzt, als sie die wenigen Meter bis zur Haustür ging. Auf jeden Fall hatte er damit die Chance vertan, die er bis zu diesem Tag möglicherweise bei ihr gehabt hätte.
    Sie hörte die Klingel deutlich, abgesehen davon war es absolut still im Haus, kein Ton sonst drang heraus, auch nicht, als Lotte ein zweites und drittes Mal klingelte und in die Knie ging, um durch den Briefschlitz zu rufen. Sie blieb in der Hocke sitzen, horchte angestrengt, aber sie hörte kein Lebenszeichen.
    Lotte erhob sich und wischte sich etwas Staub von den Knien. Dann trat sie auf den Bürgersteig, wandte sich nach rechts und klingelte an der Tür der Nachbarn. Augenblicklich wurde geöffnet. Lotte war sofort klar, dass der kränklich aussehende Herr sie beobachtet hatte. »Ja?«, fragte er. Ein spindeldürrer Mann mit papiertrockener Haut und dunklen Rändern unter den Augen.
    »Entschuldigen Sie die Störung«, sagte sie mit einem Lächeln, von dem sie hoffte, dass es entwaffnend wirkte. »Mein Name ist Lotte Bendtsen, ich bin eine Kollegin von Mikael. Also dem Sohn aus dem Haus Nr.  14 .« Ihre ausgestreckte Hand blieb unbeachtet in der Luft hängen. Sie ließ sie fallen. »Ich dachte, vielleicht wissen Sie …«
    »Sie sind verreist«, antwortete der Mann und schob die Tür zu.
    Lotte legte eine Hand auf die Klinke, um noch ein paar Sekunden herauszuschinden. »Beide?«
    »Der Sohn arbeitet. Das werden Sie doch wohl wissen, als seine … Kollegin.« Er ließ das Wort wie eine besonders ausdrückliche Unterstellung klingen.
    »Nun ja, das ist es ja gerade …« Lotte hielt noch immer die Klinke fest. »Er ist nicht zur Arbeit erschienen, und wir sind ein wenig beunruhigt.«
    »Ich weiß nichts. Gehen Sie!« Diesmal warf er die Tür zu, Lotte blieb stehen und starrte auf das gelb getönte Reliefglas des kleinen Gucklochs. Sie hätte dieses hässliche Fenster gern eingeschlagen und diesem Muffelkopp irgendetwas Kindisches zugeschrien, aber sie behielt die Fassung und ging zurück zum Auto.
    Eine Weile betrachtete sie die eng Seite an Seite in einer geschlossenen Zeile stehenden Häuser. Man konnte nicht um sie herumgehen. Um vom Vorgarten in den Garten hinter dem Haus zu kommen, musste man durchs Haus. Was machten die Leute bloß, wenn sie vorne und hinten den Rasen mähen wollten? Schleppten sie den Rasenmäher über die Auslegeware und fuhren mit dem Staubsauger hinterher? Lotte konnte es sich nicht vorstellen. Es musste einen anderen Weg in die Gärten hinter den Häusern geben. Sie ging bis zum Ende der Straße und bog um die Ecke. Und ganz
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