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Die Grenadière (German Edition)

Die Grenadière (German Edition)

Titel: Die Grenadière (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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nutzbringenden Unterweisungen geschahen abends, wenn der kleine Marie auf den Knien der Mutter eingeschlummert war, in der Stille einer schönen Nacht, wenn der Spiegel der Loire den Himmel widerstrahlte; aber sie verdoppelten stets die Melancholie der entzückenden Frau, die zuletzt in Schweigen verfiel und unbeweglich, in Sinnen verloren, die Augen voller Tränen, dasaß.
    »Liebe Mutter, warum weinst du denn?« fragte Louis sie an einem herrlichen Juniabend, als die Dämmerungsschatten einer halbhellen Nacht einem heißen Tage gefolgt waren.
    »Mein lieber Sohn,« erwiderte sie und faßte den Hals des Kindes, dessen innere Erregung sie tief rührte, und zog es an sich, »zunächst, weil die traurige Lage Jameray Duvals, der ohne jede Unterstützung in die Höhe kommen konnte, dieselbe ist, die ich dir und deinem Bruder bereitet habe. Denn bald, mein geliebtes Kind, werdet ihr allein auf der Welt sein, ohne Stütze und ohne Schutz. Ich werde euch verlassen, die ihr noch klein seid, und ich möchte dich so gern genügend stark und genügend unterrichtet wissen, damit du Marie als Führer dienen kannst. Aber ich werde nicht mehr Zeit dazu haben. Ich liebe euch zu sehr, als daß mich diese Gedanken nicht sehr unglücklich machen sollten. Ach, meine lieben Kinder, wenn ihr mich nur nicht eines Tages verdammen werdet ...«
    »Und warum sollten wir dich dereinst verdammen, Mutter?« »Weil du, mein armer Junge,« sagte sie und küßte ihn auf die Stirn, »eines Tages erkennen wirst, daß ich unrecht gegen euch gehandelt habe. Ich werde euch hier zurücklassen, ohne Vermögen, ohne ...« sie zögerte, »–ohne einen Vater.«
    Bei diesem Worte brach sie in Tränen aus und schob ihren Sohn sanft von sich, dem eine Ahnung sagte, daß seine Mutter allein sein wolle, und der den halb eingeschlafenen Marie mit sich nahm. Eine Stunde später, als sein Bruder zu Bett gegangen war, kehrte Louis mit leisen Schritten in den Pavillon zurück, in dem seine Mutter lag. Er hörte, wie sie in einem Tone, der ihm zu Herzen ging, sagte:
    »Komm Louis.«
    Das Kind warf sich der Mutter in die Arme und umhalste sie fast krampfhaft.
    »Liebste,« sagte er endlich, wie er sie häufig anredete, obwohl er selbst diese Bezeichnung noch zu schwach fand, um seine ganze zärtliche Liebe auszudrücken; »Liebste, warum fürchtest du denn, daß du sterben wirst?«
    »Weil ich krank bin, mein armes, geliebtes Engelskind, weil meine Kräfte jeden Tag mehr abnehmen und es für mein Übel keine Rettung gibt, das weiß ich.«
    »Und woran leidest du denn?«
    »Das muß ich vergessen, und du, du darfst die Ursache meines Todes niemals kennen.«
    Das Kind verhielt sich einen Moment schweigend und warf verstohlene Blicke auf die Mutter, die die Augen zum Himmel erhoben hatte und die Wolken betrachtete. Es war ein Augenblick sanfter Trauer! Louis glaubte nicht an den bevorstehenden Tod seiner Mutter, aber er teilte ihren Kummer, ohne sich über ihn klarzuwerden. Während ihrer langen Träumerei verhielt er sich still. Weniger jung, würde er auf diesem edlen Antlitz ein Gemisch von Reue mit glückseligen Erinnerungen, die ganze Geschichte eines Frauenlebens gelesen haben: eine sorglose Kindheit, eine Ehe ohne Liebe, eine furchtbare Leidenschaft, im Sturm erschlossene Blüten, die vom Blitz getroffen und in den Abgrund geschleudert wurden, aus dem sie nichts mehr heraufzuholen vermochte.
    »Geliebte Mutter,« sagte Louis endlich, »warum verbirgst du mir dein Leiden?«
    »Mein Sohn,« entgegnete sie, »wir müssen unsre Leiden vor fremden Augen vergraben, ein lachendes Gesicht zeigen, niemals vor ihnen von uns selber reden, kurz, uns nur mit ihnen beschäftigen; wenn solche Grundsätze im Hause befolgt werden, dann verbreiten sie Glück um sich. Eines Tages wirft auch du sehr zu leiden haben! Gedenke dann deiner armen Mutter, die vor deinen Augen starb und dir doch immer zulächelte und ihre Schmerzen verheimlichte; du wirft dann den Mut finden, das Elend des Daseins zu ertragen.«
    Ihre Tränen verschluckend, versuchte sie nun ihrem Sohn den Mechanismus der Existenz klarzumachen, den Wert, die Grundlage, den Bestand von Vermögen, die sozialen Zusammenhänge, die ehrenhaften Mittel, um das für den Lebensunterhalt erforderliche Geld zu verdienen, und die Notwendigkeit der Bildung. Dann teilte sie ihm einen der Gründe ihrer beständigen Traurigkeit mit, indem sie ihm sagte, daß am Tage nach ihrem Tode er und Marie in größter Bedürftigkeit zurückgelassen
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