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Die Grenadière (German Edition)

Die Grenadière (German Edition)

Titel: Die Grenadière (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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die darstellende Geometrie zu eigen gemacht und zeichnete vortrefflich; er hätte jedenfalls das Examen, das die jungen Leute vor der Aufnahme in die polytechnische Schule machen müssen, mit Erfolg bestanden. Manchmal ging er abends auf der Brücke von Tours spazieren, wo er einem pensionierten Schiffsleutnant begegnet war; das männliche Gesicht, die Orden und das Wesen dieses Seeoffiziers der Kaiserzeit hatten lebhaft auf seine Einbildungskraft gewirkt. Seinerseits hatte der Seemann Freundschaft für den jungen Menschen gefaßt, dessen Augen von Energie leuchteten. Louis, heißhungrig auf militärische Berichte und von dem Wunsche beseelt, Aufklärungen zu erhalten, erschien immer bei dem Seemann, um mit ihm zu plaudern. Der Leutnant auf Halbsold hatte zum Freunde und Genossen einen Infanterieobersten, der ebenso wie er aus den Listen der Armee gestrichen war; der junge Gaston konnte sich also umschichtig über das Feldleben und das Schiffsleben unterrichten. Er überhäufte daher die beiden Soldaten mit Fragen. Dann, nachdem er schon im voraus sich mit ihren Leiden und ihrer harten Existenz vertraut gemacht hatte, bat er seine Mutter um die Erlaubnis, zu seiner Zerstreuung Ausflüge in die Umgegend machen zu dürfen. Da die erstaunten Lehrer Frau Willemsens erklärt hatten, daß ihr Sohn zu viel arbeite, bewilligte sie ihm seinen Wunsch mit dem größten Vergnügen. Das Kind machte nun Riesenmärsche. Um sich stark gegen jede Ermüdung zu machen, kletterte er mit unglaublicher Geschicklichkeit auf die höchsten Bäume, er lernte schwimmen, er durchwachte Nächte. Er war nicht mehr das frühere Kind, sondern ein junger Mann geworden, mit einem von der Sonne gebräunten Gesicht, von dem schon ein gewisser ausgesprochener Entschluß abzulesen war.
    Als der Monat Oktober herangekommen war, konnte sich Frau Willemsens nur noch mittags erheben, wenn die von den Gewässern der Loire zurückgestrahlten und auf den Terrassen sich sammelnden Sonnenstrahlen in der Grenadière jene Temperatur erzeugten, durch die die warmen milden Tage des Meerbusens von Neapel sich auszeichnen, den die dortigen Ärzte deshalb zum Aufenthalte empfehlen. Sie setzte sich dann unter einen der grünen Bäume mit ihren beiden Söhnen, die nicht von ihr wichen. Deren Arbeiten wurden jetzt nicht mehr fortgesetzt und die Lehrer verabschiedet. Die Kinder und die Mutter wollten ganz eins im andern leben, ohne sich um etwas anderes zu bekümmern oder sich von ihm ablenken zu lassen. Man hörte weder Weinen noch fröhlichen Lärm. Der Ältere hatte sich neben der Mutter ins Gras hingestreckt, ließ sich von ihr anschauen wie ein Liebhaber und küßte ihr die Füße. Der unruhige Marie pflückte Blumen, brachte sie ihr mit trauriger Miene und stellte sich auf die Fußspitzen, um ihr wie einem jungen Mädchen einen Kuß zu rauben. Die bleiche Frau mit den großen schwarzen Augen, die ganz hinfällig geworden war und sich nur langsam bewegen konnte, klagte niemals, lächelte ihren beiden in voller Gesundheit prangenden Kindern zu und bot zusammen mit ihnen ein entzückendes Bild, das von der herbstlichen Trauer mit ihren gelben Blättern und halb entblätterten Bäumen, den milden Strahlen der Sonne und den weißen Himmelswolken der Touraine umrahmt wurde.
    Endlich wurde Frau Willemsens vom Arzte untersagt, ihr Zimmer zu verlassen. Dieses wurde nun täglich mit ihren Lieblingsblumen geschmückt, und die Kinder hielten sich jetzt hier auf. In den ersten Novembertagen setzte sie sich zum letztenmal ans Klavier. Über diesem hing an der Wand eine Schweizer Landschaft. Am Fenster bildeten die beiden Kinder mit ihren aneinander gelehnten Köpfen eine Gruppe. Beständig gingen ihre Blicke von den Kindern zu der Landschaft und von der Landschaft zu den Kindern. Das war ihr letzter festlicher Tag, ein heimliches Fest, das sie still in ihrer Seele, in Erinnerungen tief versunken, feierte. Als der Arzt kam, ordnete er an, daß sie im Bett bleiben müsse. Diese furchtbare Vorschrift wurde von der Mutter und den beiden Söhnen mit fast stumpfsinnigem Schweigen aufgenommen.
    Nachdem der Arzt gegangen war, sagte sie: »Louis, bring mich auf die Terrasse, daß ich mein liebes Land noch einmal sehe.«
    Nach diesen einfach gesprochenen Worten reichte das Kind der Mutter den Arm und führte sie auf die Mitte der Terrasse. Hier richtete sich ihr Blick vielleicht unwillkürlich mehr zum Himmel empor als auf das Land; aber es wäre auch schwer zu entscheiden gewesen, wo
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