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Die goldene Meile

Die goldene Meile

Titel: Die goldene Meile
Autoren: Martin Cruz Smith
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Größe, gleiche Figur und beide Tänzer. Nicht, dass ich Spiridon in Borodins Klasse ansiedeln würde. Borodin hat hier in Straßenschuhen ein paar Sprünge gemacht, bei denen Ihnen das Herz stehen geblieben wäre.«
    »War er betrunken?«
    »Nicht betrunken. Nur verrückt.«
     
    Arkadi rief Oberst Schtscheko aus dem Auto an und erklärte, Sergej Borodin könne an zwei Orten zugleich sein, weil er Spiridon als Double benutze. Der Oberst war nicht beeindruckt.
    »Bei Nacht hätte der eine Junge vielleicht für den andern durchgehen können. Aber ich muss Ihnen sagen, nach Auskunft seines Arztes hatte dieser Spiridon schon zweimal versucht, sich das Leben zu nehmen. Diesmal hat der Teufel ihm den richtigen Assistenten geschickt. Trotzdem werden die Borodins nicht weit kommen. Das sind keine Superverbrecher. Der Junge richtet irgendeine Sauerei an, und die Mutter wischt den Dreck weg, das ist alles. Bis jetzt hatten sie Glück. Aber sie werden nicht davonkommen.«
    »Sie sind schon halb davongekommen. Solange nichts gegen sie vorliegt, können sie überallhin, und je weiter sie weggehen, desto geringer ist die Chance, dass sie erkannt werden. «
    »Tja, aber wir können nichts weiter tun.« »Wo ist der Vater bei all dem?«
    »Verschwunden, bevor Sergej geboren wurde. Bedauerlich. Ein Junge braucht einen Vater. Haben Sie Kinder, Renko?« »Nein.«
    »Schade.« Schtscheko seufzte am anderen Ende. »Sie brauchen einen Zeugen, mein Freund. Oder ein Geständnis.«
    Arkadi hatte eine Zeugin, die sich an nichts erinnerte. Und als Geständnis das Gefasel eines Tänzers, der seit sechzig Jahren im Grab lag.
    Man nimmt, was man kriegen kann.
     
    Isa Wolkowa, der schöne Schatten der Ballerina, die sie einmal gewesen war, hüllte sich in einen seidenen Bademantel und setzte sich im Schneidersitz in einen Sessel, wo sie Zigaretten und Brandy in Reichweite hatte. Ihre Wohnung hätte besser nach Paris gepasst. Elegantes Furnier. Ein Blumenarrangement in jedem Zimmer. Fotos mit Widmung von Colette, Coco und Marlene. Fotos der Wolkowa beim Tanzen mit berühmten Partnern. Eine Opiumpfeife für den Schmerz.
    »Sein ganzes Leben lang bezahlt man für ein paar Jahre Tanzen. Nachdem einem die besten Jahre geraubt wurden, kann man verrückt werden. Nijinskis Karriere wurde durch Krieg und Revolution vorzeitig beendet. Tag für Tag saß er an seinem Tagebuch und schrieb: >Gott ist ein Hund. Ein Hund ist Gott. Ein Hund ist Scheiße. Gott ist Scheiße.< Sie zog ein Buch aus der Tasche ihres Bademantels. »Na los, lesen Sie irgendeine Seite.«
    Das Buch hieß »Das Tagebuch Vaslav Nijinskis«.
    Arkadi schlug es auf und überflog die Seiten, auf denen stand: »Ich bin ein Mann im Tode. Ich bin kein Mensch ... Ich bin eine Bestie und ein Raubtier ... alle werden Angst vor mir haben und mich in eine Irrenanstalt einweisen. Aber das ist mir gleich. Ich habe vor nichts Angst. Ich will den Tod. Ich werde mir das Gehirn wegpusten, wenn Gott das will.«
    Madame Wolkowa sagte: »Die Leute empfanden ihn als gefährlich. Tatsächlich hat er nie jemandem ein Haar gekrümmt. Es war alles in seinem Kopf.«
    »Und das alles haben Sie Georgi Spiridon erklärt?«
    »Ja. Er und Vera Serowa waren ein reizendes Paar. Er war ein schwermütiger Junge, aber sie konnte ihn aufheitern.«
    Arkadi schüttelte den Kopf. Sein Gehirn schaltete auf Hochtouren. »Georgi und Vera. Warum haben Sie mir das nicht eher gesagt?«
    »Ich wollte Georgi aus allem heraushalten, was mit der Polizei zu tun hatte. Er wird nie ein erstklassiger Tänzer werden; er hat weder die Schultern noch die Größe dazu. Er wird zur Vernunft kommen, wenn es mir je gelingt, ihn von Sergej Borodin wegzubringen. Gott hat alle seine Gaben dem Falschen geschenkt.«
    »Das sagt jeder. Wenn Borodin ein so großartiger Tänzer ist, warum ist er dann nicht beim Bolschoi?«
    Wolkowa setzte zweimal zu einer Antwort an. Dann sagte sie: »Man tanzt auf der Bühne, aber das Tanzen ist etwas Intimes. Einfach ausgedrückt: Den Mädchen war es unbehaglich. Sie hatten Angst.«
    Wie die Schafe, die vor einem Wolf weglaufen, dachte Arkadi. Sie wissen nicht, warum - sie tun es einfach.
     
    Die Vierundzwanzig-Stunden-Frist des Entlassungsausschusses vom vergangenen Tag lief aus. Arkadi hatte noch achtzehn Minuten als leitender Ermittler. Danach könnte er endlich mit Sergej Borodin zusammentreffen. Er goss sich ein Glas Wodka ein.
    Wenn jemand einen Toast auf den Weltfrieden ausbringen wollte, hatte sein Vater immer
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