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Die goldene Meile

Die goldene Meile

Titel: Die goldene Meile
Autoren: Martin Cruz Smith
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sieben Jahren die Jüngste der Familie, und deshalb bekam sie den Auftrag, das Baby wegzuschaffen. Sie sollte es in einem Park liegen lassen, in einer Kiste, auf einer Bank, in einer öffentlichen Toilette - egal, wo, solange die Polizei nicht ins Spiel kam.
    »Was ist mit Itsy?« Sehr langsam zog Emma ihre Jacke an.
    Klim hatte das Kommando übernommen. »Sie ist tot. Tito und Leo und Peter auch. Du hast Glück, dass du nicht auch tot bist. Leg das Baby irgendwo ab, und mach schnell, bevor es aufwacht.«
    »Und wenn keiner sie findet?«
    »Dann hat sie eben kein Glück gehabt.«
    Wenn die Leute über Glück redeten, klang es für Emma, als sprächen sie von einem Schluck Wasser in der Wüste. Es gab einfach nicht genug für alle.
    Aber als sie sich zwischen den parkenden Autos vor dem Kasaner Bahnhof schlängelte, entdeckte sie einen Mercedes 600, dessen hintere Seitentür offen stand, und sie sah einen Ledersitz, so weich wie der Schoß einer Mutter. Emma schob das Baby hinein, und es sah so friedlich aus, dass sie selbst für einen Augenblick den Kopf auf das Polster legte.
    Ehe sie sich versah, lag sie selbst auf dem Rücksitz, und eine Frau am Steuer schrie sie an: »Raus mit dir! Raus! Raus! Weiß deine Mutter, wo du bist?«
    Sie waren auf dem Roten Platz. Emma hatte die Kreml-Mauer noch nie in der Nacht gesehen, so nah und so hell beleuchtet, da die Miliz die Straßenkinder vertrieb.
    Was sie sah, war atemberaubend. Die Zwiebeltürme der Basilius-Kathedrale weniger als das Kaufhaus auf der anderen Seite. In jedem Schaufenster stand eine Prinzessin. Das waren keine demütigen Küchenmädchen und auch nicht solche, die für Bergleute, schwarz vom Kohlenstaub, die Betten bezogen. Es waren königliche Prinzessinnen, die den Nebel verwandeln konnten, sodass er funkelte wie ein kristallener Briefbeschwerer.
    Emma nahm Kurs auf den Platz der Revolution. Von Anfang an war ihr mit ihrem Auftrag nicht wohl gewesen, und jetzt wurde die Zeit knapp. Sie hatte vorgehabt, das Baby irgendwo in einen Abfallkorb zu legen, wo man es sehen und retten würde, aber sie fand nichts als Recycling-Container aus Plastik, rote für Altpapier und blaue für Kunststoffe und Glas. Sie wollte nicht, dass die Leute leere Flaschen auf das Baby warfen.
    Das Baby streckte sich, schürzte die Lippen und gab die üblichen Signale von sich, dass es gleich aufwachen und schreien würde. Emma wusste, dass sie bald verschwinden musste, und als der Verkehr vorbeigezogen war, wagte sie sich auf die leere Straße hinaus. Sie war erst halb hinübergekommen, als die nächste Welle von Autos heranrauschte. Es war, als wate sie bis zum Hals ins Meer. Die Autos waren so riesig und schwarz und ihr Scheinwerferlicht so grell, dass Emma das Baby fallen ließ. Es war einfach zu schwer und zu unhandlich. Aber dann fiel ihr ein, dass Itsy niemals jemanden im Stich ließ, und hastig bedeckte sie das Baby mit ihrem eigenen Körper. Die Lichter eines Lastwagens strahlten über sie hinweg. Der Lastwagen kam bebend zum Stehen, Gurte platzten mit explosionsartigem Knattern, und die Plastikplane hob sich wie ein riesiger Fledermausrochen.
    Zwei Männer kletterten aus der Fahrerkabine, beide bleich vor Schrecken. Der gesamte Verkehr war zum Stehen gekommen. Exotische Mammutstoßzähne lagen über alle vier Fahrbahnen verstreut und stoppten den Verkehr so wirkungsvoll wie eine Panzersperre. Die Stoßzähne waren das Ergebnis monatelanger Trecks über den sibirischen Permafrost. Jeder Stoßzahn hatte einzeln mit scharfem Strahl abgesprüht werden müssen, um ihn in Sammlerqualität zu bringen, und war schließlich per Hand in einer Moskauer Badewanne zersägt worden.
    Der Fahrer ließ sich auf ein Knie nieder und spähte unter seinen Lastwagen. Dann sprang er wieder auf. »Ihr kleinen Scheißer, wo seid ihr?«
    Emma wieselte schon zwischen den Autos hindurch und verschwand. Sie nahm Kurs auf die Drei Bahnhöfe, denn das war die Welt, die sie kannte.
     

NEUNUNDZWANZIG
    Es war der erste sonnige Tag seit einer Woche. Pappelsamen schwebten in der Luft. Die Leute sonnten sich am Ufer der Moskwa. Familien fuhren hinaus zu ihren Datschas. Datschas, so groß wie eine Villa, Datschas, so klein wie ein Schuppen. Und die Straßenkinder kamen aus ihren Verstecken unter den Brücken, verlassenen Gebäuden und in Güterwagen auf den Nebengleisen. Die Drei Bahnhöfe pulsierten wie ein mächtiges Herz. Ihre Hallen beherbergten Diebe und Dichter und eine Mehrheit von Russen, die sich
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