Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die goldene Meile

Die goldene Meile

Titel: Die goldene Meile
Autoren: Martin Cruz Smith
Vom Netzwerk:
ersatzweise der gemäßigten Kleptomanie hingaben. Es war ein Rad, das sich immer weiterdrehte und für niemanden anhielt. Tadschiken stürzten aus großer Höhe ab. Straßenjungen hielten Ausschau nach Fußlahmen. Manche Kinder wurden im Luxus geboren, andere wiederum kamen überhaupt nicht zur Welt, jedenfalls nicht offiziell.
    Emma erwachte vom Krächzen der Krähen in ihren grauen Mänteln, die sich immer frecher und mit übermäßiger Neugier dem Baby näherten und nacheinander an der Wolldecke zupften. Emma, Beschützerin der Säuglinge, Bezwingerin der Krähen, sprang auf und verscheuchte sie alle.
     
    An dem Tag, als die Luxusmesse im »Club Nijinski« zu Ende ging, eröffnete ein kleiner, unbedeutender Zirkus sein Gastspiel auf dem Gelände bei den Drei Bahnhöfen. Da, wo der Bauwagen gestanden hatte, wurde ein Zelt mit einer Freiluftmanege aufgebaut. Die Attraktionen waren einfach: Marionetten, dressierte Hunde, ein Schwertschlucker, ein Jongleur und ein Affe, der mit einer Mütze herumlief und Geld sammelte. Die Mütze war verschlissen, und der Affe hatte die Räude.
    Arkadi bemerkte, dass ein kleines Mädchen, das mit einem Baby auf dem Arm bettelte, mehr Geld bekam. Er ging auf sie zu und bewunderte die blaue Babydecke. Dann fragte er das kleine Mädchen, wie das Baby hieß.
    Als sie zögerte, sagte er: »Sie heißt Katja.«
    Die Augen des Mädchens wurden schmal und wachsam.
    Die Aussicht auf einen Freiluftzirkus an einem sonnigen Tag hatte junge Familien angelockt, die speziell die Drei Bahnhöfe sonst mieden. Maja und Schenja spähten auf der anderen Seite des Zeltes in jeden Kinderwagen, der vorbeigeschoben wurde.
    »Ich passe bloß auf das Baby auf, bis seine Mutter kommt«, sagte Emma.
    »Du machst das sehr gut, wie ich sehe. Das ist eine große Verantwortung.« »Wer sind Sie?«
    »Ich bin ein Zauberer. Ich weiß so manches.« »Was denn, zum Beispiel?« »Auf ihrer blauen Decke sind kleine Küken.« »Das beweist gar nichts.«
    »Und wenn man das Haar in ihrem Nacken hochschiebt, hat sie ein Muttermal, das aussieht wie ein Fragezeichen.« »Hat sie nicht.« »Sieh doch nach.«
    Emma drehte das Baby um und untersuchte seinen Nacken. Als sie das Muttermal sah, klappte ihr Unterkiefer herunter.
    »Woher wussten Sie das?«
    »Erstens, weil ich ein Zauberer bin, und zweitens, weil ich Katjas Mami kenne. Sie hat Katja überall gesucht.« »Ich habe sie nicht gestohlen.« »Das weiß ich.«
    Emmas Gesicht verzog sich weinerlich. »Und was soll ich machen?«
    »Bring Katja zu ihrer Mami und sag: >Ich habe dein Baby gefunden.<«
     

Dreissig
    Der Gärtner folgte Arkadi in einen kleinen grünen Vorortzug von der Sorte, die von den Großstadtbahnhöfen zu den einfachen Bahnsteigen der Dörfer kriecht, unbeirrt von allem andern. Die Sitze waren aus Holz und boten keine Bequemlichkeit. Der Gärtner hatte so schon Mühe, sich zu rühren. Aber er akzeptierte die Schmerzen als Strafe für einen vermasselten Auftrag. Tadschiken! Wieso hatte ihm und Ilja niemand gesagt, dass der Schuppen ein tadschikisches Heroindepot war? Sie hätten entsprechende Vorkehrungen treffen können. Stattdessen war Ilja von einem gottverdammten Höllenhund zerfleischt worden. Ihn zurückzulassen war die schwerste Entscheidung seines Lebens gewesen, aber mit einer Kugel in der Schulter und einem asiatischen Scharfschützen, der nur darauf wartete, ihn erneut ins Visier zu nehmen, war ihm kaum etwas anderes übrig geblieben.
    Drei Stunden hatte er gebraucht, um bis zum Tor zu kriechen. Aber es war eine Schande, und das bestärkte ihn nur in seiner Entschlossenheit, die Sache in Ordnung zu bringen. Zwei Wochen hatte es gedauert, bis die Wunde verheilt war, doch er hatte die Zeit nicht verplempert. Er fuhr mit der kleinen Elektritschka, die Renko zweimal am Tag nahm, morgens und abends. Anfangs hatte er sich ans hinterste Ende des Wagens gesetzt, nur um die Lage zu erkunden und sich damit vertraut zu machen. Er merkte sich, welches Buch Renko las, und kaufte sich ein anderes vom selben Autor. Das Buch war blanker Stuss, aber er verstand wenigstens, worum es ging.
    Nach sechs Tagen diskutierte er schon ausgiebig mit Renko über die Bücher. Renko war ein solcher Schauspieler. Doch die Sicherheit bei der Staatsanwaltschaft war ebenfalls der reine Schwindel. Er war dort in einer Botenuniform aufgekreuzt, mit einem Päckchen, das unbedingt und auf jeden Fall an Ermittler Renko ausgeliefert werden müsse. Sie hatten ihm die Stadt- und die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher