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Die Glut

Die Glut

Titel: Die Glut
Autoren: Sándor Márai
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festzumachenden Straftaten des Lebens. Die Gesetzesbücher kennen sie nicht. Wir beide aber schon«, sagt er trocken. »Und wir wissen auch, dass wir mit unserer ganzen beleidigten, feigen, hochmütigen Klugheit nicht gewonnen haben, denn sie ist tot, und wir leben, und wir drei gehören zusammen, so oder so, im Leben wie im Tod. Das ist sehr schwer zu verstehen, und wenn man es versteht, überkommt einen eine seltsame Unruhe. Was wolltest du damit, dass du sie überlebtest, was hast du damit gewonnen? ... Hast du dir peinliche Situationen erspart? Was sind schon Situationen, wenn es um die Wahrheit des Lebens geht, darum, dass auf Erden eine Frau lebt, die dich angeht, und dass diese Frau die Gattin des Mannes ist, der dich als dein Freund ebenso angeht? ... Fällt da noch ins Gewicht, was die Menschen darüber denken? Nein«, sagt er einfach. »Am Ende zählt die Welt überhaupt nicht. Sondern nur das, was in unseren Herzen bleibt.«
    »Was bleibt in unseren Herzen?«, fragt der Gast.
    »Die zweite Frage«, antwortet der General. Er lässt die Türklinke nicht los. »Die zweite Frage, nämlich: was wir mit unserer Klugheit, unserem Hochmut und unserer Überheblichkeit gewonnen haben. Das ist die zweite Frage: ob der wahre Inhalt unseres Lebens nicht ebendiese qualvolle Sehnsucht nach einer toten Frau war. Eine schwere Frage, ich weiß. Ich kann sie nicht beantworten. Ich habe alles erlebt, alles gesehen, aber diese Frage kann ich nicht beantworten. Ich habe den Frieden gesehen, ich habe den Krieg gesehen, ich habe Glanz und Elend gesehen, ich habe gesehen, wie du feige warst und ich hochmütig, ich habe Kampf und Versöhnung gesehen. Doch im Grunde unseres Daseins lag vielleicht der Sinn aller unserer Handlungen in der Bindung, die uns an jemanden fesselte - Bindung oder Leidenschaft, nenn es, wie du willst. Ist das die Frage? Ja, das ist sie. Ich möchte, dass du mir sagst«, er spricht so leise, als fürchte er, hinter ihm höre jemand mit, »wie du hierüber denkst. Glaubst auch du, dass der Sinn des Lebens einzig in der Leidenschaft besteht, die eines Tages in unsere Herzen, Seelen und Körper fährt und dann auf ewig brennt? Was immer zwischendurch geschehen mag? Und wenn wir das erlebt haben, haben wir dann vielleicht doch nicht umsonst gelebt? Ist die Leidenschaft so tief, so grausam, so großartig, so unmenschlich? ... Und gilt sie vielleicht gar nicht einer Person, sondern nur der Sehnsucht? ... Das ist die Frage. Oder gilt sie vielleicht doch einer Person, immer und ewig nur jener einen, geheimnisvollen Person, die gut oder schlecht sein mag, wobei die Intensität der Leidenschaft, die uns an sie bindet, nicht von ihren Eigenschaften und Handlungen abhängt? Antworte, wenn du kannst«, sagt er lauter, fordernd.
    »Warum fragst du mich?«, sagt der andere ruhig. »Du weißt genau, dass es so ist.«
    Und sie mustern einander von Kopf bis Fuß.
    Der General atmet schwer. Er drückt die Klinke hinunter. Im großen Treppenhaus flattern Schatten auf, schwanken Lichter. Sie gehen wortlos die Treppe hinunter, Diener eilen ihnen entgegen, mit Kerzen, mit dem Mantel und dem Hut des Gastes. Auf dem weißen Kies vor der Flügeltür knirschen Wagenräder. Sie verabschieden sich wortlos voneinander, mit stummem Händedruck, und beide verbeugen sich tief.

20

    Der General geht zu seinem Zimmer. Am Ende des Gangs erwartet ihn die Amme.
    »Bist du jetzt ruhiger?«, fragt sie.
    »Ja«, sagt der General.
    Sie gehen zusammen auf das Zimmer zu. Die Amme mit flinken kleinen Schritten, als sei sie gerade aufgestanden und eile ans frühmorgendliche Werk. Der General bewegt sich langsam, auf seinen Stock gestützt. Sie gehen durch die Gemäldegalerie. Vor dem leeren Fleck, der den Platz von Krisztinas Porträt anzeigt, bleibt der General stehen.
    »Jetzt kannst du«, sagt er, »das Bild wieder zurückhängen.«
    »Ja«, sagt die Amme.
    »Es hat keine Bedeutung«, sagt der General.
    »Ich weiß.«
    »Gute Nacht, Nini.«
    »Gute Nacht.«
    Die Amme reckt sich in die Höhe und macht mit ihrer kleinen Hand, an deren Knochen die Haut gelb und faltig klebt, das Kreuzzeichen auf die Stirn des Greises. Sie geben sich einen Kuss. Es ist ein ungeschickter, kurzer, merkwürdiger Kuss: Wenn ihn jemand sähe, müsste er lächeln. Aber wie jeder Kuss ist auch dieser eine Antwort, eine unbeholfene, zärtliche Antwort auf eine Frage, die nicht in Worte zu fassen ist.

Nachwort
    Ein Thema, eine Hauptperson, ein Monolog: das Buch scheint aus einem
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