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Die Glut

Die Glut

Titel: Die Glut
Autoren: Sándor Márai
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dem Weg gehen: Sie wartet, um die wahre Bedeutung dieses Schweigens zu erkennen und zu verstehen. Und dann stirbt sie. Ich aber bleibe da und weiß alles und weiß etwas doch nicht. Jetzt ist der Augenblick gekommen, da ich die Antwort auf die Frage wissen werde. Antworte, bitte: Wusste Krisztina, dass du mich damals, an jenem Morgen auf der Jagd, töten wolltest?«
    Er fragt es sachlich und leise, aber mit einer gespannten Neugier in der Stimme, wie Kinder sie haben, wenn sie von den Erwachsenen die Geheimnisse der Sterne und der fernen Welten zu erfahren hoffen.

18

    Der Gast rührt sich nicht. Er hat den Kopf in die Hände gelegt, die Ellenbogen auf die Lehnen des Sessels gestützt. Jetzt atmet er tief ein, beugt sich vor, streicht sich mit der Hand über die Stirn. Er will antworten, aber der General hindert ihn daran: »Verzeih«, sagt er. »Siehst du, jetzt habe ich es ausgesprochen«, fährt er rasch und eifrig fort, als wolle er sich entschuldigen. »Ich musste es aussprechen, und jetzt, da ich es ausgesprochen habe, fühle ich, dass ich nicht richtig frage, dass ich dich in eine peinliche Lage versetze, denn du willst antworten, willst die Wahrheit sagen, während ich die Frage nicht richtig gestellt habe. Sie klingt wie eine Anklage. Und ich muß zugeben, dass ich in den vergangenen Jahrzehnten den Verdacht nicht ganz loswerden konnte, der Augenblick im frühmorgendlichen Wald sei nicht nur eine Eingebung des Zufalls, der Gelegenheit, der unterweltlichen Stimmen gewesen nein, mich quält der Verdacht, dass diesem Augenblick andere vorangegangen waren, nüchterne Augenblicke des hellichten Tags. Denn Krisztina sagte ja: ›Feigling‹, als sie erfuhr, dass du geflohen warst. Mehr sagte sie nicht, und es war das letzte Wort, das ich von ihr hörte; es ist auch das letzte Urteil über dich, das sie ausspricht. Und ich bleibe mit diesem Wort allein. Feigling, warum? ... grüble ich später, viel später. Wozu war er zu feige? Zum Leben? Zu unserem Leben zu dritt oder zu eurem separaten Leben? Zu feige zum Sterben? Wagte er mit Krisztina weder zu leben noch mit ihr zu sterben? Wollte er es nicht? ... So grüble ich. Oder war er doch zu etwas anderem zu feige, nicht zum Leben, nicht zum Sterben, nicht zur Flucht und auch nicht zum Verrat, und auch nicht zu feige dazu, mir Krisztina wegzunehmen, auch nicht dazu, auf Krisztina zu verzichten, nein, sondern einfach zu feige für eine schlichte, polizeilich feststellbare Tat, die sie beide, meine Frau und mein bester Freund, ausgedacht und besprochen hatten? Und ist der Plan gescheitert, weil du zu feige warst? ... Das ist es, worauf ich im Leben doch noch eine Antwort haben möchte. Vorhin aber habe ich nicht richtig gefragt, verzeih mir; deshalb habe ich dich nicht reden lassen, als ich sah, dass du antworten wolltest. Denn vom Standpunkt der Menschheit und des Weltalls ist diese Antwort nicht wichtig, sie ist es aber für mich, einen einzelnen Menschen, der schließlich und endlich doch wissen möchte - nachdem sie, die dich der Feigheit bezichtigt hat, schon zu Staub geworden ist -, der doch wissen möchte, was es war, zu dem du zu feige warst. Denn dann weiß ich die Wahrheit, wenn diese Antwort einen Punkt hinter meine Fragen setzt, und ich weiß nichts, wenn ich diese Einzelheit nicht mit letzter Gewissheit kenne. Ich lebe seit einundvierzig Jahren zwischen Nichts und Alles, und kein Mensch kann mir helfen, außer dir. Ich möchte nicht so sterben. Dann wäre es besser und menschenwürdiger gewesen, wenn du vor einundvierzig Jahren nicht feige gewesen wärst, wie Krisztina feststellte; ja, es wäre menschlicher gewesen, wenn eine Kugel ausgelöscht hätte, was die Zeit nicht auslöschen konnte: den Verdacht, dass ihr beide gemeinsame Sache macht und den Mord an mir plant, den auszuführen du dann zu feige bist. Das möchte ich wissen. Alles andere sind nur Worte, lügnerische Gebilde: Betrug, Liebe, Missetaten, Freundschaft, alles verblasst vor der Leuchtkraft dieser Frage, wird bleich wie die Toten und die Bilder, über denen die Schatten der Zeit liegen. Mich interessiert nichts mehr, ich will nicht wissen, wie eure Beziehung wirklich war, will die Einzelheiten nicht mehr kennen, das ›Warum‹ und das ›Wie‹ interessieren mich nicht mehr. Zwischen zwei Menschen, zwischen einer Frau und einem Mann, sind das ›Warum‹ und das ›Wie‹ sowieso immer beklagenswert gleich ... Die Konstellation ist von verachtenswerter Schlichtheit. ›Darum‹ und
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