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Die Glut

Die Glut

Titel: Die Glut
Autoren: Sándor Márai
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beantwortet, die du oder ich ihr noch hätten stellen können, falls es sich ergeben hätte, dass sie mit einem von uns beiden reden wollte. Ja, die Toten antworten endgültig. Aber siehst du, sie hat nicht mit uns sprechen wollen. Manchmal denke ich, von uns dreien war sie die Verratene. Nicht ich, den sie mit dir betrog, nicht du, der mich mit ihr betrog - Betrug, was für ein Wort! Es gibt solche Wörter, die seelenlos und automatisch die Situation eines Menschen definieren. Aber wenn alles zu Ende ist, wie jetzt für uns beide, dann können wir mit solchen Wörtern nicht viel anfangen. Betrug, Untreue, Verrat, alles nur Wörter, wenn der Mensch, auf den sie sich beziehen, tot ist, wenn er um der wahren Bedeutung dieser Wörter willen schon Rede und Antwort gestanden hat. Was nicht Wort ist, ist stumme Realität, nämlich die, dass Krisztina tot ist - und wir beide leben. Als ich das begriffen habe, war es schon zu spät. Da blieben nur noch das Warten und der Wunsch nach Rache - jetzt, da das Warten vorbei und die Stunde der Rache gekommen ist, spüre ich überrascht, wie hoffnungslos und wertlos alles ist, was wir voneinander noch erfahren, was wir gestehen oder abstreiten könnten. Man begreift nur die Realität. Jetzt begreife ich sie. Und das Fegefeuer der Zeit hat die Erinnerung von jeglichem Zorn gereinigt. Jetzt sehe ich Krisztina zuweilen wieder, im Schlaf und auch im Wachen, so wie sie durch den Garten geht, mit einem großen Florentinerhut, schlank, in einem weißen Kleid, sie kommt aus dem Gewächshaus, oder sie spricht zu ihrem Pferd. Ich sehe sie, habe sie auch heute Nachmittag gesehen, als ich dich erwartete und dabei kurz einschlief. Ich sah sie im Halbschlaf«, sagt er verschämt, ein alter Mann. »Ich habe Bilder gesehen, aus alten, sehr alten Zeiten. Und ich habe heute Nachmittag auch mit dem Verstand begriffen, was ich mit dem Herzen schon lange wusste: die Untreue, den Betrug, den Verrat. Ich habe es verstanden, und was kann ich darüber sagen? ... Man altert langsam: Zuerst altert die Lust am Leben und an den Menschen, weißt du, allmählich wird alles so wirklich, du verstehst die Bedeutung von allem, alles wiederholt sich auf beängstigend langweilige Art. Auch das hat mit dem Alter zu tun. Man weiß, ein Glas ist einfach ein Glas. Und ein Mensch, der Arme, ist auch nur ein sterblicher Mensch, was immer er tut. Dann altert der Körper; nicht auf einmal, nein, zuerst altern die Augen oder die Beine oder das Herz. Man altert in Raten. Und mit einmal beginnt die Seele zu altern: denn der Körper mag alt geworden sein, die Seele aber hat noch ihre Sehnsüchte, ihre Erinnerungen, noch sucht sie, noch freut sie sich, noch sehnt sie sich nach Freude. Und wenn die Sehnsucht nach Freude vergeht, bleiben nur noch die Erinnerungen oder die Eitelkeit; und dann ist man wirklich alt, endgültig. Eines Tages erwacht man und reibt sich die Augen: Man weiß nicht, wozu man erwacht ist. Man kennt zu gut, was der Tag anzeigt: den Frühling oder den Winter, die Äußerlichkeit des Lebens, das Wetter, die Einteilung des Alltags. Es kann nichts Überraschendes mehr geschehen: Nicht einmal das Unerwartete, Ungewohnte, Schreckliche überrascht einen, weil man alle Wechselfälle kennt, mit allem rechnet, nichts mehr will, weder Gutes noch Schlechtes. Das ist das Alter. Im Herzen lebt noch etwas, eine Erinnerung, irgendwie ein Lebensziel, man möchte jemanden noch einmal wiedersehen, man möchte noch etwas sagen oder erfahren, und man weiß genau, dass der Augenblick dafür kommen wird, aber dann ist es plötzlich nicht mehr so wichtig, die Wahrheit zu erfahren und ihr zu antworten, wie man das in den Jahrzehnten des Wartens angenommen hatte. Allmählich versteht man die Welt, und dann stirbt man. Man versteht die Phänomene und die Beweggründe der Menschen. Die Zeichensprache des Unbewussten ... Denn die Menschen teilen ihre Gedanken in Zeichensprache mit, ist dir das aufgefallen? Als sprächen sie von den wesentlichen Dingen in einer fremden Sprache, auf chinesisch, und man müsste dann diese Sprache in die Sprache der Wirklichkeit übersetzen. Sie wissen nichts über sich selbst. Sie reden immer nur von ihren Bedürfnissen, und dabei stellen sie sich selbst dar, unbewusst und verzweifelt. Das Leben wird beinahe interessant, wenn man die Lügen der Menschen kennengelernt hat, wenn man amüsiert darauf zu achten beginnt, dass sie immer anderes sagen, als sie denken und wirklich wollen ... So kommt eines Tages die
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