Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Glut

Die Glut

Titel: Die Glut
Autoren: Sándor Márai
Vom Netzwerk:
könnte. Wusste Krisztina, dass du mich damals am Morgen im Wald töten wolltest? Antwortest du? ...«
    »Jetzt antworte ich auch auf diese Frage nicht mehr«, sagt Konrád.
    »Gut«, sagt der General dumpf und irgendwie gleichgültig.

19

    Im Raum ist es kalt geworden. Es dämmert noch nicht, aber durch die halboffenen Fenster ist der frische, ein wenig nach Thymian riechende Hauch des frühen Morgens zu spüren. Der General reibt sich fröstelnd die Hände.
    Jetzt, in der Stunde vor Tagesanbruch, wirken beide sehr alt. Gelb und knochig wie die klapprigen Bewohner der Beinhäuser.
    Unvermittelt hebt der Gast mit einer mechanischen Bewegung die Hand und blickt müde auf seine Armbanduhr.
    »Ich glaube«, sagt er leise, »dass jetzt alles besprochen ist. Es ist Zeit, dass ich gehe.«
    »Wenn du gehen willst«, sagt der General höflich, »bitte, der Wagen wartet.«
    Beide stehen auf und treten unwillkürlich zum Kamin, sie beugen sich vor, um ihre mageren Hände an der Glut des abgebrannten Feuers zu wärmen. Sie merken erst jetzt, dass sie durchfroren sind; die Nacht ist unerwartet kalt geworden, das Gewitter, das im nahen Elektrizitätswerk die Lichter gelöscht hat, ist nahe beim Schloss vorbeigezogen.
    »Du gehst also nach London zurück«, sagt der General, als spräche er zu sich selbst.
    »Ja«, sagt der Gast.
    »Willst du dort leben?«
    »Leben und sterben«, sagt Konrád.
    »Ja«, sagt der General. »Natürlich. Möchtest du nicht morgen noch bleiben? Etwas anschauen? Jemanden treffen? Du hast das Grab noch nicht gesehen. Und Nini auch nicht«, sagt er zuvorkommend.
    Er spricht stockend, als suche er zum Abschied die richtigen Worte und fände sie nicht. Doch der Gast bleibt ruhig und freundlich.
    »Nein«, sagt er. »Ich möchte niemanden und nichts sehen. Ich lasse Nini grüßen«, sagt er höflich.
    »Danke«, sagt der General. Und sie gehen zur Tür.
    Der General legt die Hand auf die Klinke. So stehen sie einander gegenüber, nach gesellschaftlicher Sitte, ein wenig vorgebeugt, zum Abschied bereit. Beide blicken sich noch einmal im Zimmer um, das sie - beide spüren es - nie mehr betreten werden. Der General zwinkert dabei mit den Augen, als suche er etwas.
    »Die Kerzen«, sagt er zerstreut, als sein Blick an den rauchenden Kerzen auf dem Kaminsims hängenbleibt. »Sieh nur, die Kerzen sind ganz heruntergebrannt.«
    »Zwei Fragen«, sagt Konrád dumpf und unvermittelt. »Du hast zwei Fragen erwähnt. Was ist die andere?«
    »Die andere?«, sagt der General. Sie beugen sich zueinander wie zwei Komplizen, die sich vor den nächtlichen Schatten fürchten und auch davor, dass die Wände Ohren haben könnten. »Die zweite Frage?« wiederholt er flüsternd. »Aber du hast ja schon die erste nicht beantwortet ... Schau«, sagt er ganz leise, »Krisztinas Vater hat mir vorgeworfen, dass ich überlebt habe. Überhaupt alles überlebt, das meinte er. Denn man antwortet nicht nur mit seinem Tod. Der ist eine gute Antwort. Man antwortet auch damit, dass man überlebt. Wir beide haben diese Frau überlebt«, sagt er vertraulich. »Du, indem du weggegangen bist, ich, indem ich dageblieben bin. Wir haben überlebt, feige oder blind, beleidigt oder klug, jedenfalls haben wir überlebt. Und meinst du nicht, dass wir dafür Gründe hatten? Meinst du nicht, dass wir ihr auch über das Grab hinaus eine Verantwortung schuldig sind, ihr, die doch mehr, doch menschlicher war als wir beide - mehr, weil sie gestorben ist und uns beiden also geantwortet hat, während wir am Leben geblieben sind, und das lässt sich nicht beschönigen. Das sind Tatsachen. Wer jemanden überlebt, ist immer ein Verräter. Wir hatten das Gefühl, wir müssten am Leben bleiben, und das lässt sich nicht beschönigen, denn sie ist darüber gestorben. Darüber, dass du weggegangen bist, darüber, dass ich dageblieben, aber nie auf sie zugegangen bin, darüber, dass wir zwei Männer, zu denen sie gehörte, niederträchtiger, stolzer, feiger, hochmütiger und schweigsamer waren, als es eine Frau ertragen kann; wir sind vor ihr geflohen und haben sie mit unserem Weiterleben verraten. Das ist die Wahrheit. Das sollst du wissen, in London, in deiner letzten, einsamen Stunde, wenn alles zu Ende ist. Ich in diesem Haus werde es auch wissen: Ich weiß es schon jetzt. Jemanden überleben, den man so liebte, dass man um seinetwillen auch hätte töten können, jemanden überleben, der einem auf Tod und Leben nahestand, das ist eine der heimlichen, nicht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher