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Die Giftmeisterin

Titel: Die Giftmeisterin
Autoren: Eric Walz
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Ermengards Hände. Diese Stunden verbringt sie manchmal allein, viel öfter jedoch mit Berta, gelegentlich mit Prinzessin Teodrada und selten mit der Königin.
    Vor Sonnenuntergang besucht sie den dritten Gottesdienst. Zu Hause steht bei der Rückkehr das Abendmahl für Arnulf und sie bereit: ein Stück Fleisch vom Widder, Hammel oder Ochsen, Kohl, Erbsen, Bier für Arnulf, freitags Aal. Bald darauf geht Gräfin Ermengard zu Bett, ein äußerst bequemes Paradies aus Teppichen, Wollkissen und Pelzen, die auf dem Boden liegen. Zwei- bis dreimal wöchentlich wird sie dort von ihrem Gemahl besucht.
    Ausnahmen von diesem Ablauf sind die gelegentlich stattfindenden Falken- oder Hetzjagden, denen Ermengard als Zuschauerin beiwohnt, sowie die hohen Feiertage und die Bankette. An dreihundertvierzig Tagen im Jahr gibt es keine Ausnahmen.

    Â 
    Ich nehme zwei gleich starke, sich widersprechende Gefühle wahr, wenn ich diese Zeilen, die ich soeben geschrieben habe, lese.
    Zum einen Geborgenheit - ein seltsames Gefühl, das sich an den unmöglichsten Orten und trotz unmöglichster Zustände einstellt, wenn uns die Orte und Lebensumstände zur Gewohnheit geworden sind. Ich habe Frauen erlebt, die sich beharrlich weigerten, eine armselige, verfallene Behausung zugunsten einer besseren zu verlassen, und ich habe Frauen erlebt, die sich ebenso beharrlich weigerten, Traurigkeit, Schmerz oder Zorn zu verlassen, obwohl sie von ihnen zugrunde gerichtet wurden. Ich werde später noch darauf zurückkommen. Jetzt frage ich: War auch ich eine jener Frauen? Zweifellos habe ich mich in meinem Leben sicher gefühlt, auch wenn es mir nicht das bot, wonach ich mich sehnte - ein Kind, eine Familie, gute Gespräche mit Freunden, die Freiheit, die ich als Mädchen gehabt hatte, als ich über Hügel spaziert war. Aber wenigstens war die unendliche Wiederholung der Tage und Stunden ein stabiles Bollwerk gegen...
    Wogegen, das weiß ich nicht mehr. Wie doch zwei Wochen etwas vergessen lassen können, was jahrelang Bestand hatte. Heute empfinde ich ein wahnsinniges Glück - ich bitte das wörtlich zu verstehen -, ein wahnsinniges Glück, das Gleichmaß meines Lebens zu durchbrechen.

6
    AM MORGEN NACH dem Fund von Hugos Leiche und dem Gespräch mit Emma ging ich durch Aachen. Ich war von Emmas Anspruch zutiefst verunsichert und suchte Halt in den üblichen Ritualen meiner Tage. Allerdings war dieser Gang durch Aachen die einzige Beschäftigung, die ich stets wirklich genoss. Und da ich durch Gottes Gnade in eine Stellung gekommen bin, die mich der Armut enthoben hat, kommt mir die Pflicht zu, die Armut anderer zu lindern.
    An diesem Tag wandte sich ein Steinmetz an mich, dessen Frau von Krankheit niedergeworfen worden war. Drei Tage lang hatte er alles versucht, doch ihr Zustand verschlimmerte sich, und er konnte sich weder einen Arzt noch weiteres Fernbleiben von der Arbeit leisten. Ich ließ einen Arzt kommen und zahlte dem Steinmetz einen Wochenlohn, mit der Bitte, mich auf dem Laufenden zu halten.
    Wegen der großen Kälte, die zu erwarten war, verteilte ich Wollstoffe, mit denen die Ärmsten sich die Beine und Arme einwickeln konnten.
    Während ich durch die von Nebel durchwobenen Gassen ging, traten von links und rechts aus den Holzhütten Kinder in Lumpen hervor und grüßten mich stumm mit ihren kleinen Händen. Alte Frauen sammelten Schnee in Eimern, unterbrachen ihr Gespräch, nickten mir zu. Männer bei der Arbeit lüfteten ihre Kopfbedeckung. Die meisten Leute kannte ich, bei manchen hatte ich schon in der Hütte gesessen,
einige sagten mir im Vorbeigehen nette Worte. In ihren Augen stand oft Dankbarkeit, aber wer glaubt, ich würde von ihnen geliebt, der irrt. Ich bin die Gräfin, man kann mich nicht lieben. Obwohl ich vertraut mit ihren Nöten bin, ihre Armut lindere, so manchen ihrer Söhne und Töchter, Mütter und Väter in schlimmer Lage geholfen habe, bin ich diesen Leuten so fremd wie eine Lilie dem Sumpf fremd ist, aus dem sie aufragt.
    Â 
    Als ich meinen Rundgang durch das seit einigen Jahren schnell wachsende Dorf fast beendet hatte, sah ich ihn wieder. Er war ein Junge von etwa zehn Jahren. Tag für Tag stand er in der Mitte des Dorfes und bot seine eigenen Schnitzereien feil, zumeist Gebrauchsgegenstände wie Suppenkellen und Schalen, aber seine besondere Zuneigung galt den Tieren, die er mit erstaunlicher
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