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Die Geschichte eines Sommers

Die Geschichte eines Sommers

Titel: Die Geschichte eines Sommers
Autoren: Wingfield Jenny
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wohl, du alter Furz. Ich kenn dich doch.«
    Das waren schon eher die Worte einer Moses als die einer Predigerfrau, und es stellte sich heraus, dass der alte John doch noch zu dem einen oder anderen Grinsen fähig war. Zum Beweis gab er ihr eine Kostprobe.
    »Willst du ein Bier, Willadee?«, fragte er hoffnungsvoll.
    »Du weiß doch, dass ich nicht trinke.«
    »Ja, aber es würde mir einen teuflischen Spaß machen, wenn du mal etwas tust, was Sam Lake umhauen würde, wenn er’s wüsste.«
    Willadee lachte und knuffte ihren Vater in die Rippen. »Also schön, gib mir ein Bier«, sagte sie. »Mich würd’s nämlich echt freuen, wenn du ein bisschen Spaß hättest.«
    Erst nach zwei Uhr morgens verließ Willadee das »Never Closes« und schlich sich ins Haus zurück. Als ihre Mutter gerade von der Toilette kam, stießen die beiden Frauen im Flur aufeinander.
    »Willadee, hast du etwa eine Bierfahne?«, fragte Calla.
    »Ja, Ma’am, hab ich.«
    »Auch das noch«, sagte Calla und ging die Treppe hinauf.
    Als Willadee später in ihrem alten Zimmer im Bett lag, dachte sie noch einmal über alles nach. Wie das erste Bier nach faulen Tomaten geschmeckt hatte, das zweite jedoch angenehm erfrischend gewesen war – und dass der Lärm und das Gelächter in der Bar genauso berauschend auf sie gewirkt hatten wie der Alkohol. Sie und ihr Vater hatten die Gäste sich selbst bedienen lassen, sich zusammen an einen leeren Tisch gesetzt und über Gott und die Welt geredet, so wie früher, bevor Willadee geheiratet hatte. Damals war sie der Schatten des alten Mannes gewesen, heute war er selbst nur noch ein Schatten. Fast unsichtbar. Aber nicht heute Abend. Heute Abend hatte er gestrahlt.
    Jetzt wollte er nicht mehr sterben. Auf jeden Fall sah er so aus, als würde er das nicht mehr wollen. Er hatte sich schon seit Langem nutzlos gefühlt, aber Willadee hatte ihm gezeigt, wie sehr er noch gebraucht wurde, indem sie all die Stunden bei ihm gesessen, mit ihm gescherzt und ihm verständnisvoll zugehört hatte, während er ihr sein Herz ausschüttete.
    »Du bist immer mein Liebling gewesen«, hatte er ihr erklärt, kurz bevor sie das »Never Closes« verließ. »Die anderen hab ich auch lieb. Alle. Ich bin ja ihr Daddy, also liebe ich sie. Aber du, du und Walter …« Er schüttelte den Kopf. Vor Ergriffenheit versagte ihm die Stimme. An der Hintertür der Bar küsste er sie auf die Wange. John Moses, der seine geliebte Tochter zurück in das sichere Haus geleitete, das er als starker junger Mann erbaut hatte. John Moses, der fühlte, dass er noch zu etwas nutze war.
    Willadee war kaputt, aber es war eine angenehme Art von kaputt. Sie fühlte sich, als würde sie schweben. Nichts hielt sie mehr an der Erde fest. Sie konnte einfach immer höher steigen und auf das Leben hinabblicken, während es an den Rändern unbestimmt wurde und verschwamm. Sie nahm sich vor, irgendwann wieder mal zwei Bier zu trinken. Irgendwann. Sie war schließlich eine der Moses-Familie.
    Das Lieblingskind ihres Vaters.

3
    Bereits am frühen nächsten Morgen begannen die Verwandten einzutreffen. Sie parkten auf dem Hof hinter dem Haus und drängten sich aus ihren Wagen heraus. Schwungvoll öffneten sie die Kofferräume der Autos und zauberten riesige Schüsseln voller Kartoffelsalat und Platten mit gebratenen Hähnchen hervor wie ein Magier Kaninchen aus einem Zylinder. Außerdem Maiskolben, Kürbiskasserollen, eingelegte grüne Bohnen, fünfzig Sorten Pickles, riesige Kanister Eistee und genügend Kuchen und Törtchen, um damit eine riesige Menschenmenge mehr als satt zu bekommen. Und die Menschenmenge war durchaus da.
    Zuerst waren die Söhne von John und Calla, Toy, Sid und Alvis, mit ihren Frauen und Kindern gekommen. Toy hatte zwar keine Kinder, dafür hatte Sid zwei und Alvis sechs. Dazu kamen noch die drei von Willadee, die ja schon da waren, also musste sich niemand Sorgen machen, dass dieser Zweig der Familie in absehbarer Zeit aussterben könnte.
    »Ist ja unglaublich, wie viele Enkel ich habe«, sagte Oma Calla zu niemand Speziellem.
    »Aber nicht unerklärlich!«, trällerte Willadee.
    Ihre Brüder brüllten vor Lachen.
    »Da hab ich wohl eine ganze Horde Heiden großgezogen«, sagte Calla und versuchte vergeblich, missbilligend auszusehen. Sie mochte es, wenn sich die Menschen um sie herum amüsierten, und das taten sie.
    Die Frauen stellten das Essen auf die Tische, und die Kinder langten gleich zu, obwohl es noch gar nicht erlaubt war. Also musste
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