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Die Geschichte eines Sommers

Die Geschichte eines Sommers

Titel: Die Geschichte eines Sommers
Autoren: Wingfield Jenny
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du die Liebe wärst«, fuhr er mit belegter Stimme fort. »Wenn du die Liebe wärst, dann hättest du doch nicht zugelassen, dass mein Walter aufgerissen wurde wie ein Schlachtschwein …«
    Er begann den Kolben seiner Waffe mit einem anderen Lappen zu polieren, der in der Latztasche seines Overalls gesteckt hatte. Tränen traten ihm in die Augen und liefen ihm die wettergegerbten Wangen hinunter. Er machte sich nicht die Mühe, sie wegzuwischen.
    »Wenn du die Liebe bist«, brüllte er, »dann kann an der Liebe nicht viel dran sein!«
    Die Kinder hockten hinter dem dichten Brombeergestrüpp, ihrem Stacheldrahtwall, und starrten durch winzige Löcher zwischen den stacheligen Zweigen zum Feind hinüber. Sie hatten den alten Mann klar und deutlich im Blick, ohne dass er sie sehen konnte.
    Swan hatte das Gefühl, dass sie eigentlich nicht hier sein sollten. Es war eine Sache, wenn sie und ihre Brüder sich gegenseitig bespitzelten, weil sie nur Dinge sagten, die sowieso für sie als Geschwister bestimmt waren. Doch das hier war Papa John. Sie hatten ihn noch nie weinen sehen oder es für möglich gehalten, dass er überhaupt weinen könnte. Waren sie zu Besuch, schlief er eh meist den ganzen Tag und hielt sich am Abend in seiner Bar auf. Sie sahen ihn höchstens, wenn er wortlos durch ein Zimmer ging oder abends am Tisch saß und in seinem Essen herumstocherte. Ihre Mutter sagte, er sei nicht immer so gewesen. Als sie noch ein Kind gewesen war, hätte er sogar recht gut ausgesehen, doch er hätte sich vom Leben unterkriegen lassen. Seinem heutigen Aussehen nach zu urteilen hatte sie mit Letzterem wohl recht.
    Swan zupfte Noble am Ärmel, um ihm zu sagen, dass sie gehen wollte, aber er fuhr mit einem Finger über seinen Hals, um zu signalisieren, dass er ihr die Kehle aufschlitzen würde, gäbe sie auch nur einen Mucks von sich.
    Genau in diesem Moment hörte Papa John auf mit Gott zu reden und begann zu singen.
    »Coming home«, sang er mit zitternder Stimme. Er war vollkommen unmusikalisch. »Cominnng … hommmme …«
    Swan warf Bienville einen Blick zu, der erschrocken zurückschaute. Das hier wurde von Minute zu Minute unerträglicher.
    »Never more to roammmm …«, grölte Papa John jetzt, konnte sich an den übrigen Text aber nicht erinnern. Also summte er völlig falsch ein paar weitere Takte und wechselte dann zu einem Song von Hank Williams, an dessen Text er sich ebenfalls nicht erinnern konnte. »Hearrr that lonesommme whiii-pooorwillll … it sounds too blue to cryyyy. Dahh-dahh-dahhh … lost … the will to live …«
    Zwischendurch kramte er eine Patrone aus seiner Tasche und lud seine Schrotflinte.
    »I’m so lonesome, I could …«, an dieser Stelle brach seine Stimme. »I’m so lonesome, I could …«
    Swan dachte, dass er sich wie eine Schallplatte mit Sprung anhörte.
    »I could …«, sang er wieder, brachte aber das letzte Wort erneut nicht über die Lippen. Er schüttelte den Kopf und stieß einen langen verzweifelten Seufzer aus, dann steckte er sich den Lauf der Schrotflinte in den Mund.
    Swan schrie, und Noble und Bienville sprangen wie aufgescheuchte Wachteln in die Luft.
    Papa John war nicht einmal dazu gekommen, seinen Finger an den Abzug zu legen. Statt sich also vor den Augen seiner Enkelkinder das Hirn wegzupusten, nahm er ruckartig Haltung an und knallte dabei mit dem Hinterkopf gegen den Baum. Der Lauf der Schrotflinte rutschte aus seinem Mund und riss die obere Gaumenplatte mit. Das Gebiss flog durch die Luft, verschwand im Brombeergestrüpp und landete direkt vor den Füßen der drei Kinder, die zitterten wie Espenlaub. Papa John sprang genauso schockiert wie gedemütigt auf. Sein Mund, der ohne die obere Gebisshälfte eingefallen wirkte, klappte immer wieder auf und zu.
    Die Geschwister starrten sehr lange auf den Boden. Als sie schließlich wieder aufblickten, ging Papa John bereits wieder durch den Wald zurück zum Haus. Durch die sich abwechselnden Sonnenstrahlen und schattigen Abschnitte wirkte er gesprenkelt und irgendwie getarnt, sodass er kaum von seiner Umgebung zu unterscheiden war. Und obwohl er immer irgendwie zu sehen war, verschmolz er doch so sehr mit den Bäumen und dem Gestrüpp, als wäre er ein Teil des Waldes und der Wald ein Teil von ihm.
    Papa John erschien nicht zum Abendessen. Er verschwand einfach im »Never Closes« und öffnete die Bar. Calla, Willadee und die Kinder konnten den Lärm, den er machte, durch die Wand zwischen Küche und Kneipe hören. John
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