Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Geschichte eines Sommers

Die Geschichte eines Sommers

Titel: Die Geschichte eines Sommers
Autoren: Wingfield Jenny
Vom Netzwerk:
die kaum jemandem auf, da seine Brille so dick und schwer war, dass sie ihm ständig von der Nase zu rutschen drohte. Da er unbedingt cool sein wollte, hatte er sich einen wiegenden Gang zugelegt und sprach mit tiefer, bedrohlicher Stimme. Das Problem dabei war leider, dass er sich gerade im Stimmbruch befand und seine Stimme in eine hohe Lage wechselte, wenn er es am wenigsten erwartete. Sagte er beispielsweise gerade so etwas Finsteres wie: »Wenn du dich bewegst, reiß ich dir das Herz aus dem Leib«, so sprang seine Stimme ins Falsett, und die ganze Wirkung war dahin.
    Swan war elf, ein kleines, kräftiges Mädchen mit grauen Augen, das als Junge durchgehen konnte, wenn sie die Sachen ihres jüngeren Bruders Bienville trug. Samuel hätte einen Anfall gekriegt, hätte er gewusst, dass Willadee das erlaubte. In der Bibel stand klar und deutlich, dass Frauen sich nicht wie Männer kleiden sollten, und Samuel Lake versuchte stets, die Bibel wortwörtlich zu befolgen. Willadee hingegen ließ die Kinder meist das tun, was sie wollten, wenn Samuel nicht dabei war, solange sie damit nicht gegen die Familiengrundsätze der Moses verstießen. Das bedeutete, wenn ihre Sprösslinge nicht logen, stahlen und keine Tiere oder kleineren Kinder quälten.
    Die eine Woche im Sommer, in der sie Jungenklamotten tragen durfte und sich nicht so sittsam wie sonst verhalten musste, war für Swan die schönste Zeit des Jahres. Dann konnte sie unter Stacheldrahtzäunen hindurchkriechen und über Weiden rennen, ohne dass ihr der verflixte Rock im Weg war. Swan war klein. Sie war schnell. Und sie war genau das, was Noble unbedingt sein wollte: cool. Sie ließ sich nicht unterkriegen, wie sehr man es auch versuchte.
    »Dieses Kind ist ein wahrer Teufel«, sagte Oma Calla manchmal zu Willadee, wenn sie glaubte, Swan würde nicht zuhören. Doch Swan hörte immer zu.
    »Sie ist ganz die Tochter ihres Vaters«, pflegte Willadee dann zu antworten, gewöhnlich mit einem leisen Seufzen, was so viel bedeutete wie: Da ist halt nichts zu machen, Swan ist eben Swan. Doch im Grunde bewunderten Willadee und Calla Swan, obwohl sie das nie zugegeben hätten. Sie ließen es nur durch ein leichtes Hochziehen ihrer Augenbrauen und ein angedeutetes Lächeln erkennen, wann immer Swans Name fiel. Was häufig vorkam. Denn Swan geriet öfter in Schwierigkeiten als jedes andere Kind aus dem Stamme Moses.
    Bienville war neun und vollkommen anders. Er war äußerst friedfertig, liebte Bücher und war vom Universum mit all seinen Erscheinungen immer wieder aufs Äußerste fasziniert. Bei Unternehmungen wie Überwachungen oder Attentaten konnte man allerdings nicht auf ihn zählen. Mitten im schönsten Spionagespiel – man hatte den Feind in die Enge getrieben und wollte gerade zum entscheidenden Schlag ausholen – konnte es passieren, dass Bienville plötzlich dastand und die Gesteinsformation auf dem Grund eines Baches betrachtete oder die Adern in einem Blatt von einem Sassafrasbaum studierte. Man konnte sich einfach nicht darauf verlassen , dass er seinen Teil zum Krieg beitrug.
    Noble und Swan hatten immerhin inzwischen gelernt, wie sie mit Bienville umzugehen hatten. Da er sich anscheinend nie für eine Seite entscheiden konnte, machten sie ihn einfach zum Doppelagenten, was Bienville nicht störte, auch wenn er als Doppelagent in der Regel als Erster von ihnen getötet wurde.
    An diesem Samstagnachmittag war Bienville gerade zum vierten Mal getötet worden, als alles begann. Er lag mausetot auf dem Rücken auf der Weide und starrte in den Himmel.
    »Swan«, sagte er, »hast du dich jemals gefragt, weshalb man in der Nacht Sterne sehen kann, aber nicht am Tag? Die Sterne verdunsten doch nicht, wenn die Sonne aufgeht.«
    »Du sollst tot sein«, erinnerte Swan ihn.
    Sie hatte ihn soeben mit einer unsichtbaren Maschinenpistole erschossen und war nun dabei, mit einer unsichtbaren Schaufel einen unsichtbaren Graben auszuheben. Bienville wusste es noch nicht, doch er sollte in den Graben gerollt werden, egal ob tot oder nicht. Da Noble jedoch noch immer irgendwo im feindlichen Gebiet lauerte, musste Swan wachsam sein.
    »Ich will aber nicht mehr tot sein«, sagte Bienville. Er richtete sich auf, doch Swan stieß ihn mit dem Fuß wieder zu Boden.
    »Du bist eine Leiche. Du kannst nichts wollen, du kannst dich nicht aufrichten, und vor allem kannst du NICHT sprechen.«
    Während sie redete, hatte sie vollkommen vergessen, wachsam zu sein. Das wurde ihr bewusst, als sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher