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Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Titel: Die Geschichte eines schoenen Mädchens
Autoren: Rachel Simon
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hat er gesagt. ›Ich warte auf jemanden.‹«

T E I L IV
Sicher

Träume von Zuhause
2011
    Die Schulkinder stürmten in die Lobby des Washington Bürogebäudes, und wie immer fragte sich der Sicherheitsmann am Empfangspult, warum sie nicht mehr von dem leuchtenden Mosaik an der Wand vor ihnen beeindruckt waren. Er stellte sich noch sieben Jahre, nachdem das Kunstwerk hier installiert worden war, vor, dass Kinder erstaunt die Augen aufrissen, sobald sie das von hinten beleuchtete Glasmosaik sahen. Er wünschte, die Lehrer oder Begleiter würden ihre Aufmerksamkeit von den Washington-Monument-Schlüsselanhängern und den Lincoln-Memorial-T-Shirts, die sie gerade im Souvenirladen gekauft hatten, oder ihren Handys auf das Mosaik lenken.
    Aber auch diese Gruppe von etwa sechzig Fünft- oder Sechstklässlern schwatzte und alberte herum wie alle anderen, während die erwachsenen Begleitpersonen sie in die Halle führten. Nur ein paar Kinder nahmen das Kunstwerk zur Kenntnis, und ein Junge mit blondem Lockenkopf blieb sogar davor stehen. »Stellt euch auf, Kinder, wir haben nur ein paar Minuten«, rief eine der Aufsichtspersonen. Wie gewöhnlich reihten die Erwachsenen die Kinder mit dem Rücken zum Mosaik auf, das im Google-Suchprogramm als hervorragender Hintergrund für Gruppenfotos angeführt wurde.
    Es dauerte eine Weile, bis die Schüler richtig standen.Schließlich grinsten sie pflichtgemäß – alle, bis auf den Jungen mit den Locken. Er war mittelgroß, stand am Ende der zweiten Reihe und drehte sich immer wieder um. Erst der Ruf: »Schau nach vorn, Ryan« veranlasste ihn, sich den anderen anzupassen.
    Die Kameras klickten. »Okay, und jetzt weiter«, rief der Lehrer. Die Schüler fingen sofort wieder an zu plappern und drängten zurück zum Eingang. Zwei Erwachsene scheuchten die Trödler vorwärts.
    »Was ist in dich gefahren, Ryan?«, fragte eine der Begleiterinnen.
    »Schau dir das Wandbild an«, sagte Ryan, der noch immer fasziniert war. »So was hab ich noch nie gesehen. Es ist echt cool.«
    »Ja, es ist ein sehr hübsches Kunstwerk«, stimmte ihm die Frau zu. Mit ihrem Kostüm war sie die einzige Erwachsene, die kein Sweatshirt mit der Aufschrift »Best School in Chapel Hill« anhatte. Sie sah makellos aus wie eine Nachrichtensprecherin. »Aber wir müssen uns an den Zeitplan halten«, fügte sie hinzu.
    »Ich weiß, Mom, aber …«
    »Wir dürfen die anderen nicht aufhalten.«
    Der Junge stöhnte, ließ sich jedoch von ihr zum Eingang schieben. Der Sicherheitsmann bemerkte ihr Lächeln, das Lächeln einer liebenden Mutter. Die automatischen Türen glitten auf, und die beiden waren weg.
    Der Wachmann konzentrierte sich auf die Überwachungsmonitore an seinem Pult. Parkgarage – alles in Ordnung. Aufzüge – ebenfalls.
    Erst als er das Klappern von High Heels auf dem Marmorboden hörte, sah er auf. Es war die Frau von vorhin, aber diesmal ohne ihren Sohn.
    Niemand kam jemals zurück, nachdem die Schülergruppen für die Fotos posiert hatten. Aber sie ging andem Sicherheitsmann vorbei und wurde langsamer, als sie sich dem riesigen Mosaik näherte. Sie schien magisch von der Mitte des Bildes angezogen zu werden, einer Landschaft mit schillerndem See, hügeligem Land bis zum Horizont, viktorianischen Häusern, langen Zügen, Karussellpferden, knorrigen Bäumen und einer von der Sonne beschienenen Farm. Aber dann wandte sich die Frau nach links – dieser Teil wurde von Dämmerlicht beherrscht. Dort sah man eine Mole aus schwarzen Felsen und einen Leuchtturm mit einem Gesicht.
    Die Frau betrachtete den Lichtschein, der aus dem Leuchtturmgesicht drang, und schüttelte den Kopf. »Von genau so einem Leuchtturm hat Grammy oft erzählt …«, hörte sie der Sicherheitsmann sagen. Dann ließ sie den Blick über den unteren Rand des Bildes schweifen. Offenbar suchte sie ein Schild mit dem Namen des Künstlers, aber sie fand einen Bildschirm. Als sie darauf zuging, erschien ein Mann auf dem Bildschirm, der dem Betrachter Erklärungen in Gebärdensprache abgab. Eine Stimme im Hintergrund übersetzte. »Das Bild trägt den Titel ›Träume von Zuhause‹«, sagte die Stimme. »Es gehört zu einer Reihe von Werken einer Künstlervereinigung. Einige dieser Künstler haben Behinderungen. Visuelle Erklärungen zu den einzelnen Bildteilen stehen Besuchern zur Verfügung, die sich auf dem in den Boden eingelassenen Streifen von einer Seite des Kunstwerks zur anderen bewegen.« Die Frau sah hinunter auf die Kerbe im
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