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Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
Autoren: Maria Waser
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heißer Schmerz über sie, alles andere blieb leblos und starr.
    Da wußte sie es: Sie war schon eine halbe Tote, der ganze Leib vorausgestorben.
    Sie preßte die Lider zusammen und wurde ganz still. Und dann drangen die Tränen heraus in großen Tropfen und liefen rechts und links übers Gesicht, in die Haare hinein und ins Kissen, und sie konnte ihnen nicht wehren — Nun wär es gekommen, und so schön hätt es werden können — so schön …
    Als der Chirurgus aufbrach, sah sie ihn angstvoll an: „Meinen Leuten sollt Ihr nichts sagen vor der Nacht — morgen ist’s früh genug.“
    Später blieb sie mit dem Bruder allein. Der Abend war erloschen, und graue Schatten schweiften durch die Kammer. Rudolf beugte sich über die Kranke: „Soll ich dir etwas aus der Heiligen Schrift lesen?“
    Sie öffnete die Augen groß: „Wo steht das Wort von dem weisen gütigen Gott, der keines seiner Geschöpfe abruft, ehe seine Zeit erfüllet?“ Der Bruder schüttelte traurig den Kopf, aber Anna fuhr fort: „Heut vor vier Jahren, wenn es mir dannzumal geschehen wär, Gott hätt’ ich gedankt dafür; denn dann wär es wohl ein Ende gewesen. Nun aber, da es wieder angefangen und mit so neuen und starken Wegen? So ist jetzt alles zerstört und sinnlos und ohne Ende — wie Giulios Bild — vorher.“
    Der Pfarrer seufzte: „Was wissen wir, wann unsere Zeit erfüllt ist und ob es eine Erfüllung gibt, diesseits, ob das nicht alles nur Anfang und Beginn für eine andere Vollendung?“
    Anna betrachtete ihn lange ernsthaft. Dann bat sie leise: „Aus des Apostels Brief an die Korinther, das Kapitel von der Liebe möcht ich hören …“
    Als der Bruder zu Ende gelesen, sah er, daß sie mit einem stillen Lächeln dalag, das wie eine Verklärung über das arme Gesicht ging. „Soll ich noch beten?“ fragte er weich.
    Aber sie wehrte ab: „Nein, nein, das ist genug, dieweil es alles ist … Oh, wann wir nur wüßten, wie so ganz alles es ist; aber wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort.“
    Und wieder das seltsame Lächeln.
    Dann wurde es totenstill in der Kammer. Anna schloß die Augen und suchte nachzudenken über das, was gewesen. Und da geschah es, daß sie ihr Leben sah, anders als bis anhin; denn zwischen all dem scheinbar Zerstückelten und Sinnlosen entdeckte sie einzelne Punkte, hell und leuchtend wie kleine Sterne. Sie wuchsen und erhoben sich und verbanden sich zu einem leuchtenden, vollgerundeten Kranz, daneben alles andere in Dunkel und Nichts zerfiel. Aber die leuchtenden Punkte waren kleine, stille Erlebnisse, die sie einst für ein Nichts gewertet, derweil nun in nichts zerfiel, was sie einst groß und bedeutsam gemeint.
    Jene aber bildeten den Kranz des Lebens …
    Ein stiller Sommerabend in der Kinderheimat, als sie allein geblieben draußen im Feld. Irgendwo sang eine verspätete Grille, und die letzten Schwälbchen suchten ihr Nest. Der Himmel war ganz durchsichtig; aber zufernst im Westen stand ein kleiner Stern, und er wurde heller und zitterte, daß es war wie ein Winken — sie aber warf sich in den weißen duftenden Klee und drückte ihr Gesicht in die feuchten Blätter, dieweil das Herz ihr zerspringen wollte — und wußte nicht warum.
    Und ein ander Mal in Bern, da war sie heimlich aufgestanden, ganz früh vor Tag, und in den Garten hinuntergeschlichen. Die Welt war still und reglos, nur Amseln sangen leise und inbrünstig, und die schwarzen Segler gingen durch den zarten Himmel, ganz oben, und kreisten und verschwanden, und über die Gartenwege glitten die kleinen roten und schwarzen Schnecken zwischen weinenden Gräsern durch. Aber die Brust war still wie die Luft und das Herz weit wie die Welt und ohne Wünsche und ohne Schmerz.
    Und wieder — ein Novembertag und nebelschwere Gassen. Menschenschatten huschten vorbei und gingen unter — fröstelnd und allein; aber auf einmal kam eine Helligkeit durch den Nebel und spann Goldfäden über die Straße, daß die Mauern hell wurden, und ferne Türme glänzten und wollten sich auflösen in lauter Licht und Duft … Oh, die Gewalt des Lichtes, und wie die Seele sich aufschwang … Und wiederum … und wiederum … Die Bilder reihten sich süß und ergreifend und hehr, all jene Augenblicke, da sie irgendwie den Zusammenhang gefühlt mit dem, was nicht menschlich war, und da sie selber mit ihrer kleinen Welt untergegangen in Ansehung der großen und allgemeinen — und es waren die einsamen Augenblicke, wo kein Mensch darin war, und die
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