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Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
Autoren: Maria Waser
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    Nachdem auch Maria sich in ihrer stillen Weise zurückgezogen hatte, blieben Heinrich und Anna allein. Er zog einen niedrigen Schemel neben Annas Stuhl und setzte sich darauf wie in Kindertagen, und dann nahm er eine ihrer Hände und spielte mit den schlanken weißen Fingern, zerstreut und fast ein wenig verlegen, wie er es als Knabe getan, wann er der ältern Schwester etwas beichten wollte oder etwas erbetteln von ihr. „Nun hat er es doch nimmer vernommen,“ sagte er aufatmend. „Oh, wann du wüßtest, wie sehr ich mich oft gequält habe und sonderlich in denen letzten Zeiten, da allenthalben von Pietisten und Tremulanten die Red ist, daß es doch noch zu ihm käme! Vor wenig Wochen noch hat er mit mir davon geredet mit vielstrengen Worten von des Obmann Bodmer Verirrungen, maßen sein klarer Verstand für all das verschwommen und wühlend Wesen nur Verachtung hatte, und hat Herrn Holzhalb beklagt, daß er an seinem Beat einen solchen Kummer erleben müsse. Da war’s mir, daß ich’s hätt’ herausschreien mögen, wie auch ich nicht besser und in was für einem Fahrwasser ich nun wohl zöge, wenn du mich nicht herausgerissen hättest mit deiner Opferliebe. Aber heut an seinem Grab, da hab ich Trauer und Schmerz schier vergessen über einem heißen Dankgebet, daß es mir erspart geblieben, ihm den großen Schmerz anzutun.“
    Anna neigte sich zu ihm nieder: „Ja, Heini,“ sagte sie leise, „es war ein guter Engel, der dir selbigsmal die Augen öffnete, und wann’s auch grausam war und weh tat, es hat dich doch geheilt, noch bevor du den zweiten Schritt getan.“
    Aber Heinrich schüttelte den Kopf: „Nein, nein, das war’s nicht allein, und alle Enttäuschung und Ekel hätten mich nicht zu heilen vermocht, und nachher in meiner Verlassenheit und Angst wär ich doch wieder hineingeraten, so gut wie der Beat auch, wenn du mir nicht die neuen Wege gezeigt und die Augen geöffnet hättest und mich gehalten, nicht allein damalen, auch später, als das andere kam, das mit dem Estherlein, und ich an deiner starken und großen Seel mich aufrichtete und hielt … Ach, was du mir auch da getan, Anna, so danken möcht ich dir, so danken.“
    Aber sie wehrte ihm: „Was weißt du, ob es nicht gerade die Angst um dich war und die Verantwortung, die ich für dich fühlte, was mir eben jene Kraft gab? Wie sollte da eins dem andern danken! Aber festhalten wollen wir an dem, so wir unter Schmerzen gewonnen, daß es uns nimmer verloren geht. Und da nun der Vater von uns gegangen und unser Tag gekommen ist, wollen wir werken, daß wir dereinst so ruhig und vollendet sind und so bereit zum Aufbruch wie er.“
    Heinrich preßte ihre Hand. „Von allen Worten, die heute geredet wurden über ihn, war keins besser als dieses und keines mehr in seinem Geiste.“
    Hand in Hand erstiegen sie die Treppe und begaben sich ohne weitere Worte jedes nach seinem Zimmer. Anna aber saß noch lange an ihrem Fenster und blickte nach dem dunkeln Himmelsstreifen, wo hier und da ein fernes, blasses Sternlein auftauchte und wieder verschwand, wie zage Hoffnungen einer fernen Zukunft, die eine mächtigere Gegenwart immer wieder verschlingt. Aber als es gen Morgen ging, wurde der Himmel mählich klar, und die Sterne standen fest darin mit einem nahen und vertrauten Schein.
    *
    Der milde Septembermorgen lag schon geraume Zeit breit und sicher über der Stadt und hatte seinen Schein allbereits in die engsten Gassen hinabgesandt, als Anna plötzlich aus einem seltsamen Traum auffuhr mit einem heißen, aber köstlichen Gefühl in der Brust. Rasch schlug sie die Bettvorhänge zurück und betrachtete erstaunt ihre Stube, die schon taghell vor ihr lag. Der Anblick des großen ernsthaften Raumes, an dessen Wänden ihre hellfarbigen Bildchen mit ehrwürdigen Stichen sich mischten, war ihr immer noch überraschend, obgleich sie nun schon mehr denn ein Jahr hier hauste, seitdem man sich nach des Vaters Tod mit Räumung des obersten Stockwerkes enger zusammengeschlossen. Aber es war ein guter Geist, der hier in des Amtmanns Stube wohnte, ein starker und stiller, der das Herz fest machte und den Kopf klar. Und alles war gewichtiger, was man hier tat, und sozusagen verantwortungsvoller und auch einsamer. Als ob etwas von des Mannes Geist hier geblieben wäre, der das Äußere verdrängte und zur Selbstbesinnung mahnte, so war es. Und als ob sein Wort von der Kraft der Einsamkeit mit unsichtbaren Lettern über der schmalen Tür stünde, daß man sich
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