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Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
Autoren: Maria Waser
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hier, trotzdem einen keine Treppen von der Wohnung der andern trennte und trotzdem die Fenster nahe über der lebhaften Gasse lagen, wie abgeschlossen vorkam und losgelöst.
    Ja, wie losgelöst, nicht bloß von äußern und fremden Dingen, auch von der eignen Vergangenheit. Anna sah still vor sich hin mit glänzenden Augen und gefalteten Händen, und der Gedanke an den starken und gegenwärtigen Geist, der ihrem Leben neue Kraft gab, ging ihr wie ein Dankgebet durch den Sinn.
    Als sie in der Eßstube erschien, saßen Mutter und Schwestern bereits beim Frühstück und neckten die sonst so Pünktliche ihres späten Erscheinens wegen. Elisabeth aber nickte ihr lächelnd zu: „Wann der lange Schlaf schuld daran, daß du mit so hellen Augen und frohem Gesicht aufgestanden bist, möchtest du dich füglich alle Tage verschlafen.“
    „Nicht der Schlaf allein,“ entgegnete Anna, nachdem sie ihre Verspätung entschuldigt, „vielleicht aber ein außerordentlicher Traum. Mir war, als ob mir auf eins Flügel gewachsen wären, große und silberweiße, darmit ich fliegen konnte, nicht allein durch den blauen Raum, aber ganz hoch hinauf bis zu den goldigen Sternen. Das aber war so außer allem Sagen schön, daß mir eine warme Freude davon zurückgeblieben ist.“
    Maria wandte sich mit einer raschen Bewegung der Schwester zu. Ihr Gesicht war in den letzten Jahren merkwürdig friedlich geworden, seitdem die geheimnisvolle weiße Flamme auf der Stirn sich allsgemach über das ganze Haar ausgebreitet hatte, sodaß nun die ernsten Züge von einem freundlichen weißen Schein umgeben waren, und nur selten mehr trat ein Strahl des alten beängstigenden Feuers in die stille gewordenen schwarzen Augen. Jetzt gerade aber geschah es, daß es seltsam durch ihren Blick flackerte, derweil sie die Schwester anschaute und mit eigentümlich dunkler Stimme sprach: „Das ist kein guter Traum, das.“
    Anna aber lächelte: „Ich weiß, daß mir schon einmal ähnliches geträumt, damalen, als ich zuerst in meinem Berner Stübchen schlief, und ist mir wahrlich nichts Schlimmes davon gekommen.“
    Nach dem Tischgebet reichte ihr die Mutter einen Brief hinüber. „Der ist für dich,“ sagte sie nicht ohne Bekümmernis; denn die Schrift war ihr fremd, und ihre ängstliche Seele zuckte vor allem Unbekannten zusammen. Auch Anna erblaßte, als sie die lebhaften Schriftzüge gewahrte; während ihre raschen Blicke aber das Schreiben durchliefen, stieg ihr ein ungestümes Rot in die Wangen.
    „Von der Marquise!“ Sie hatte zu Ende gelesen, ihre Stimme zitterte, und in den Wimpern zuckte es; aber dann versuchte sie zu erzählen: „Der unbekannt Besteller, für den Herr Hofmann mein Maienbild erworben, sie war’s, und einem großen Meister hat sie’s gezeigt, so in Paris lebt, und sie sagt von ihm, daß er ein wahrer Zauberer sei, der nicht allein Leben und Natur, sondern auch die Geheimnisse der Luft mit dem süßesten Scheine der Wirklichkeit wiederzugeben vermöge. Und ob er gleich ein Fremder, noch jung und gebrechlichen Leibes sei und obschon er keine staatsmäßigen Schildereien male, sondern aus dem Alltäglichen und Natürlichen schöpfe, werde er doch um seiner unerhörten Art willen allenthalben bewundert und erhoben. Ja, und da er mein Bildchen gesehen: ‚Da ist eine Seele zu erlösen!‘ hab er ausgerufen. ‚Die Hand schreit ja förmlich nach den Wundern der Farbe, wie der Hirsch nach frischem Wasser, und fehlt ihr nichts denn die Perlmutterluft von Paris und meine Palett, und die will ich ihr geben!‘ Und hab ein lustig Wortspiel gemacht auf seinen großen und meinen kleinen Namen und sich dessen gefreut, daß sie beide gleich anfangen — denn er heißt Antoine Watteau — ja, und unter die Leitung dieses Meisters ruft mich die edle Frau!“
    Bis dahin hatte Anna sich gezwungen, ruhig und verständlich zu berichten; aber plötzlich übermannte sie der Sinn ihrer eignen Worte, daß sie die Hände vors Gesicht schlug und in ein kurzes, heißes Schluchzen ausbrach; doch da die andern sie überrascht ansahen, lachte sie schon wieder aus den Tränen heraus: „Wie dumm ich bin! Aber ich kann’s ja nicht glauben! Wär das möglich, daß es nun doch noch käme, und die Welt sich mir auftäte und ich noch zu dem Ziel gelangte?“
    Aber Elisabeth umarmte sie herzlich, und ihre großen Augen waren naß vor Freude: „Anna, Schwesterlein, warum soll’s nicht kommen? Lang genug hast warten müssen, und verdient hast’s auch, weiß Gott, um
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