Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
Autoren: Maria Waser
Vom Netzwerk:
gefällt bei dem Bruder,“ rief sie noch von der Treppe zurück, „oder die Rosse auf dem Feld sind, daß er mich nicht heimführen kann, bleib ich vielleicht bis morgen; ihr könnt es als eine Vorübung nehmen für die große Trennung!“ Und lachend sprang sie die Stufen hinunter mit leichten Füßen, daß die Amtmännin erstaunt aufhorchte. Solch lustiges Treppenrennen hatte sie lang nicht mehr vernommen, seit — ja, seit das Estherlein nicht mehr da war. Sie seufzte, und wiederum fiel es ihr schwer aufs Herz, wie es gewesen, heute vor vier Jahren.
    Als Anna unten anlangte, hemmte sie den raschen Schritt und lauschte einen Augenblick dem lieblichen Gesang, der mit vielen unterschiedenen Stimmen hell und grad aus Elisabeths Schulstube drang. Es war Paul Gerhards herrliches Lied, dasselbe, das die Schwester in jenen herzzerreißenden Tagen dem armen Johannes gesungen. Auch jetzt begleitete ihre schöne Stimme den jungen Chor; aber wie ganz anders das klang, als dazumal, so hell, so zuversichtlich, wie Lerchenjubel in der sonnigen Welt: „Befiehl du deine Wege …“ Anna nickte, ja, das war das große Geheimnis, dieser Glaube und die feste Zuversicht, so die Schwester zu ihrem stillen und unverbrüchlichen Glücke geführt.
    Langsam und schier andächtig erklomm sie die steile Napfgasse, begleitet von den Klängen dieses schönsten Liedes. Bevor sie aber nach der oberen Zäune umbog, blickte sie noch einmal zurück und nickte lächelnd zu dem Vaterhause hinab, das ihr aus ein paar Fenstern durch die enge Gasse nachsah: „Ja, grauer Mann, diesmal kannst mich nimmer halten, sieh, nun geh ich doch!“ Dann wandte sie sich, und während sie der Stadtmauer zuging, fuhr es ihr beglückend durch den Sinn, wie friedlich und durchaus ruhevoll es nun geworden war in dem alten Haus und daß man ihrer nimmermehr bedurfte dort unten, dieweil jedes seinen Weg gefunden und inneres Begnügen. Auch an Heinrich mußte sie denken und an die Worte, die sie das letzte Mal von ihm gehört. Das war bei des Antony Klingler, des Antistes, Leichgang, da die Theologen alle besammelt wurden; aber des Bruders Gesicht hatte schlecht gepaßt zu dem Trauergerust, und seine Rede war wie Frohlocken: „Wir haben nicht nur einen Mann, wir haben eine Zeit ins Grab gelegt; nun kann es anders werden bei uns, ein frisch Leben regt sich allenthalben, und eins muß ich sagen: Trotz ihrem unklaren und oft auch unwahren Wesen, die Pietisten haben uns doch auch in etwas geholfen; sind wie die Maulwürf, so das Erdreich lockern, daß die junge Saat besser wurzeln kann! Aber lieber ist’s mir schon, wenn ich nicht mithelfen muß bei dem lichtscheuen Werk und daß ich sein darf wie der Gärtner, der unter freiem Himmel schafft und an der Sonnen.“ Und dabei hatte er selbst gestrahlt, also leuchteten Zuversicht und ein männlich fester Wille von seiner jungen Stirn.
    Ja, auch er bedurfte ihrer nicht mehr, und ihre Zeit war gekommen.
    Unter dem Lindentor blieb sie einen Augenblick stehn. Die Erinnerung übermannte sie, daß sie wieder spürte, wie sie vor vier Jahren hier gestanden, ebenfalls, wie sie dannzumal vermeinte, vor einer großen Reise und wie ihr Herz gleichermaßen geklopft vor Erwartung und Hoffnung, ach, und wie es dann so anders geworden … Aber sie schüttelte die Gespenster von sich ab. Die Welt sah heute anders aus als damalen, mit keinerlei gleißenden Dünsten und blendendem Sonnenlicht. Eine zarte Wolkendecke spannte sich weit oben über den Himmel, sodaß die Sonne nur als heller, farbig gerandeter Fleck hoch einherzog. Davon hatte die Erde ein mildes und beruhigtes Licht und eine schöne Klarheit bis in die Fernen hinein.
    Mild und beruhigt und klar bis in die Fernen …
    Anna schritt rüstig fürbaß, vorbei am Friedhof, zu dem sie nur leise hinübergrüßte. Es war etwas in ihr, das sie vorwärts drängte und ihren Fuß beflügelte. Und während sie dahinwanderte, tranken ihre Blicke die klare Welt, und es kam ihr zu Sinn, wie anders ihr dieses Land erschienen zu den verschiedenen Zeiten ihres Lebens: Unermeßlich, als sie klein war, der helle See eine Welt, aber die Berge dahinter das Weltende. Und später, da alles wie verhangen war von grüngoldigen Schleiern, dahinter man ein unsägliches Glück vermutete, allenthalben … Und wiederum, da waren diese selben Berge wie Mauern und wie ein toter Weg der See, daß sie sich eingesperrt vorkam und abgeschlossen von all dem, darnach sie verlangte. Aber dann waren sie plötzlich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher