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Die geprügelte Generation

Die geprügelte Generation

Titel: Die geprügelte Generation
Autoren: Ingrid Müller-Münch
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völlig im Arsch. Und spürte so ein Gefühl von Wut und Gewalt in mir. Damals habe ich mir zum ersten Mal gedacht, es ist besser, du kümmerst dich nicht so intensiv um deine Kinder, denn irgendwann haust du eins womöglich noch an die Wand. Einfach aus dem Gefühl heraus, du musst funktionieren und das Kind stört dich.«
    Erst als Detlev dann seine jetzige, zweite Frau kennen lernte, verspürte er den Wunsch, noch ein drittes Kind zu bekommen, mit dem er anders umgehen wollte, als mit seinen ersten beiden. »Zu der Zeit litt ich schwer unter den Schuldgefühlen der Trennung von den beiden ersten Kindern. Und als nun mein drittes Kind, ein Sohn, da war, wurde es so viel besser, dass ich wieder normal empfinden konnte. Ich habe mich nur über den gefreut. Während seiner ganzen Kindheit hatte ich nicht einmal den Impuls, ihn zu schlagen. Nie. Nicht ein einziges Mal.«

2. Kapitel
SELBSTHERRLICHE ELTERN, VERSCHRECKTE KINDER
    Ordnung, Fleiß und keine Widerworte
    Sonja oder Detlev sind nicht die einzigen, die in jener Zeit durch ihre Eltern schwer gezüchtigt wurden. Als ich begann, Interviewpartner für dieses Buch zu suchen, sprach ich das Thema zunächst in meinem Freundeskreis an. Und stellte fest, dass sehr viele der heute über 50-Jährigen geradezu Experten in Sachen »Elterngewalt« sind. Dass sie genau wissen, wie verlogen der äußere Schein von Wohlanständigkeit und Bürgerlichkeit vieler Familien der 50er und 60er Jahre war. Und dass es tatsächlich unter der Oberfläche heftig brodelte.
    Damals konnten Eltern ihre Kinder ungehindert maßregeln, ohne dass sich in Nachbarschaft oder Verwandtschaft jemand hierüber aufregte. Dabei müssen viele die Schmerzensschreie der misshandelten Kinder mitgehört haben. Doch Eltern fühlten sich im Recht, weil niemand da war, der ihnen den Rohrstock abnahm, ihnen Einhalt gebot. Das, was sie taten, war völlig legal.
    Der bei den Nachkriegsdeutschen noch immer vorhandene Respekt vor Autoritäten sowie die Erziehungsziele Gehorsam und Unterordnung hatten absolute Priorität, erklären Ute und Wolfgang Benz in ihrem Buch »Deutschland, deine Kinder«. Die soeben überlebte Flucht, die Vertreibung, die Zerstörung und das damit einhergehende Chaos ließen nach ihren Recherchen vor allem Ordnungsliebe und Fleiß den meisten Eltern als besonders erstrebenswert erscheinen. Wohl deshalb, so vermute ich, weil Ordnung und Fleiß ihnen als Garant für Sicherheit und zukünftigen Wohlstand erschienen. Etwas, das sie lange entbehrt hatten. »Verständnis für andere Menschen und Völker« aber auch so etwas wie »Allgemeinbildung« galten dagegen als nicht unbedingt förderungswürdig. 2
    Ute und Wolfgang Benz stützen sich unter anderem auf eineUmfrage jener Jahre, nach der über die Hälfte der befragten Nachkriegseltern zur Durchsetzung dieser Ziele körperliche Strafen für notwendig und richtig hielten. Nur wenige erzogen ihre Kinder ganz ohne Schläge. Als weitere Strafe war damals der »Stubenarrest« sehr populär. Es gab aber auch Entzug von Vergünstigungen, Essen, Taschengeld und Liebe.
    Haben sie es wirklich nicht besser gewusst?
    Noch heute berufen sich die inzwischen alt gewordenen Eltern jener Zeit darauf, sie hätten es damals nicht besser gewusst, niemand habe ihnen gesagt, Prügeln sei Unrecht. Woher auch hätten sie wissen sollen, wie man Kinder anders, mit Liebe und Fürsorge erziehen könne? Ein wenig überzeugendes Argument, angesichts der Bereitwilligkeit und der unerschöpflichen Gewaltfantasie, mit der Eltern ihre Sprösslinge damals züchtigten.
    Der Schriftsteller Tilman Röhrig, selbst einst ein geprügeltes Kind, empfindet diese Rechtfertigungs-Argumente als ausgesprochen dreist und erklärte mir seine Haltung so: »Wenn Eltern behaupten, ja weißt du, es tut mir schrecklich leid, aber ich hab’s halt nicht besser gewusst, außerdem waren alle anderen ja auch so streng, deshalb habe ich es auch getan, dann ist das eine Frechheit. Wenn du dein Kind liebst, dann holst du nicht den Stock und verprügelst es. Nur weil der Nachbar das auch tut. Man kann sich nicht zurückziehen auf die Entschuldigung, ja, es war halt so üblich. Es mag üblich gewesen sein, dass in der Schule der Schlag mit dem Rohrstock auf die Hand zur Erziehungsmethode der Lehrer gehörte. Darüber ließe sich diskutieren. Aber wenn ich Vater und Mutter bin, dann weiß ich, wie weh ein Rohrstock tut. Dann kann ich mich nicht auf das Argument zurückziehen, das tun ja alle, deshalb tue
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