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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre
Autoren: Judith Lennox
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fallen lassen und mußte gleichzeitig William festhalten. Schließlich hängte sie sich den Griff der Lampe ums Handgelenk und stieg als erste aufs Dach hinaus. Eisig peitschten Wind und Regen auf sie nieder, aber sie schaffte es, das Gleichgewicht zu halten. Sie sah nicht nach unten, wo die gierigen Fluten nur darauf warteten, daß sie einen falschen Schritt machte oder die Konzentration verlor. Mit ihrem Halstuch band sie die Lampe an die Kaminkappe, dann kauerte sie sich nieder und zog William durch die Luke nach oben.
    Sie setzte ihn sicher in den schmalen Spalt zwischen Kamin und Dach – ein kleines, verängstigtes Bündel aus Pullovern, Schal und Mantel. Dann lehnte sie sich an den Schornstein, richtete sich auf und blickte in die Dunkelheit.
    Hinter ihr lag der gebrochene Deich, im Osten Felder, im Westen das Dorf, und im Norden, auf der Spitze der Insel, Drakesden Abbey. Doch Thomasine sah nichts von dieser vertrauten Landschaft. Die Laterne erhellte nur die dunklen Fluten, und dennoch starrte sie in Richtung Norden und wartete.
    Die große Vordertür von Drakesden Abbey war verschlossen, also schlug Daniel eine Scheibe ein und öffnete das Fenster von innen. Als er mit seiner Taschenlampe im Raum umherleuchtete, sah er die geisterhaften Umrisse der Möbel, die mit weißen Laken bedeckt waren. Er lief von Raum zu Raum und rief Thomasines Namen, obwohl er wußte, daß niemand im Haus war. Das schaurige Gefühl der Leere war allgegenwärtig, die Zimmer waren feucht, eiskalt und schmutzig.
    Dennoch suchte er weiter, weil er seinem Gefühl nicht traute. Im oberen Stockwerk riß er einen mottenzerfressenen Vorhang auf und starrte hinaus. Auf dem Rasen standen die großen Bäume nicht mehr. Dahinter befanden sich die Koppel und das Haus des Verwalters. Ein Licht flackerte, wo Daniel das Cottage vermutete.
    Zuerst dachte er, er hätte es sich nur eingebildet oder es sei ein Irrlicht, ein Feuerdrachen … Aber der winzige Lichtpunkt hielt an und schwankte in der Dunkelheit leicht hin und her. Er packte seine Taschenlampe und lief nach draußen.
    Auf halbem Weg die Insel hinab umspülte das höher steigende Wasser seine Beine. Als er aufblickte, sah er wieder das Licht, näher jetzt, und dahinter die schwachen Umrisse eines Dachs und Kamins. Jetzt wußte er endlich, daß sie lebte. Das Cottage stand bis zur Hälfte im Wasser, aber Thomasine lebte. Daniels Herz machte einen Freudensprung. Schon wollte er sich in die Fluten stürzen und hinüberschwimmen, als ihm klar wurde, daß er Thomasine und das Kind auf diese Weise nicht retten konnte. Außerdem war die Strömung stark und vom Sturm aufgewühlt.
    Seine Freude verwandelte sich in Angst. Obwohl er ihr schon so nahe war, obwohl er Kontinente für sie überquert hatte, müßte er jetzt vielleicht zusehen, wie sie ertrank. Er wußte, daß sie fror und erschöpft war, daß das Haus einstürzen und das Wasser sie jeden Moment fortspülen konnte. Daß sie ausrutschen und das tückisch glatte Dach herunterfallen konnte. Er rief ihren Namen, obwohl er wußte, daß seine Stimme in Wind und Regen unterging. Ein Gefühl größter Panik überkam ihn – daß Thomasine ertrinken könnte, wie Fay ertrunken war …
    Dann begann er, wieder klar zu denken. Er erinnerte sich an die Blythe-Kinder, Gerald, Nicholas und Marjorie, die in einem Boot spielten. Einem Ruderboot. Die Blythes hatten ein Ruderboot gehabt. Es mußte hier irgendwo sein.
    Er lief zu den Garagen. Er mußte das Schloß aufbrechen, dann war er drinnen und leuchtete mit der Taschenlampe durch das Dunkel. Es befand sich kein Auto mehr darin, nur ein paar Reifen, Ölkannen und Werkzeug. Doch dahinter, an die Wand gelehnt, stand das Ruderboot.
    Die Ruder waren säuberlich nach innen gesteckt. Daniel dankte dem Himmel für ordnungsliebende Menschen wie die Blythes. Dann zog er das Boot aus der Garage und schob es über den Inselhang hinab.
    Als er auf den See hinausruderte, der durch den Dammbruch entstanden war, schlug ihm der Regen ins Gesicht, und der Sturm warf das kleine Fahrzeug herum wie eine Nußschale. Da er Ruder und Steuer nicht gleichzeitig bedienen konnte, steuerte er nur mit den Rudern. Seine Arme schmerzten. Schon nach zwanzig Metern war er erschöpft. Doch er wußte, daß von all seinen Fahrten keine so wichtig war wie diese kurze hier. Sie bedeutete den
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