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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre
Autoren: Judith Lennox
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brachen die seit Jahren nicht ordentlich instand gehaltenen Fluß- und Deichufer wie Eierschalen. Wasser floß durch die Einbrüche und überschwemmte die tiefer liegenden Felder. Was der Holländer Vermuyden im siebzehnten Jahrhundert begonnen hatte, was das Produkt jahrzehntelanger erfindungsreicher Arbeit und beharrlichen Fleißes gewesen war, wurde innerhalb weniger Stunden vernichtet. Wasser brach tosend aus Flüssen und Deichen hervor und bedeckte schwarz glänzend die fruchtbare Erde der Felder. Das Land wurde wieder so, wie es tausend Jahre zuvor gewesen war. In einer einzigen Nacht machte die Natur all den anmaßenden Ehrgeiz der Menschen zunichte.
    Ihre Träume waren lebhaft und wirr. Es herrschte ein schlimmer Sturm, und der Riß in der Mauer von Drakesden Abbey wurde breiter. In dem schwarzen Spalt konnte Thomasine Menschen erkennen, die sich verzweifelt zu befreien versuchten – ausgestreckte Hände, weiße Gesichter tauchten flüchtig auf. Als sie die Gesichter erkannte, rief sie Nicholas’, Lallys und Daniels Namen. Aber sie hörten sie nicht. Dann wurde das Toben des Sturms von einem anderen, noch schrecklicheren Geräusch übertönt. Ein wiederholtes tiefes Dröhnen, wie das Geheul eines furchtbaren Deichungeheuers. Mit jedem Anschwellen des Tons wurde der Riß in der Mauer breiter.
    Thomasine wachte auf, aber das Geräusch ließ nicht nach. Bumm … bumm … bumm … tönte es durch das Heulen des Winds und den prasselnden Regen. Dann bemerkte sie, daß die Kirchenglocken läuteten, und einen Moment lang konnte sie sich keinen Reim darauf machen. Vielleicht war Sonntag. Aber am Sonntag gab es ein schönes Geläut, keinen so häßlich monotonen Klang. So wurde nur geläutet, wenn jemand gestorben war.
    Sie suchte im Dunkeln nach Streichhölzern und zündete die Kerze an. Als sie das Gesicht ans Fenster drückte, konnte sie nicht ausmachen, ob das riesige Gebäude der Abbey noch stand. Die Kirchenglocken läuteten immer noch. Viel zu lange, selbst wenn sie zum Begräbnis des angesehensten Menschen im Dorf gerufen hätten. Und warum läuteten sie in der Nacht?
    Plötzlich fiel es ihr ein, und sie starrte einen Moment auf den wild peitschenden Regen hinaus und hörte mit Schrecken auf das Heulen des Sturms. Im Nachthemd und barfuß packte Thomasine die Kerze und rannte aus dem Schlafzimmer hinaus und die Treppe hinunter.
    Fast wäre sie in das Wasser gestürzt, das gegen die Stufen und Wände schwappte und das glatte Holz schlüpfrig gemacht hatte. Vor Entsetzen schrie sie leise auf, und als sie die Kerze hochhielt, sah sie die schwarzen Fluten, die in der Küche standen. Fenster und Türen waren eingedrückt worden, und das Wasser aus dem Deich war ins Cottage geflossen. Es wirkte wie ein lebendiges Wesen, das gierig in ihr Haus eindrang. Ein paar ihrer Habseligkeiten schwammen darin herum, die in dem dunklen Strudel grotesk harmlos wirkten: ein Küchentuch, ein Teddybär, ein Weidenkorb.
    Auf der Fahrt von London in die Fens redete sich Daniel ein, daß alles in Ordnung war, daß sie in Sicherheit waren und er keinen Grund zur Sorge hatte. Die Befestigungen würden halten – das hatten sie schließlich jahrelang getan –, und wenn nicht, hätte Thomasine den steigenden Wasserstand bemerkt, das Cottage verlassen und sich in die höher liegende Abbey geflüchtet. Verdammt, selbst wenn sie im Geräteschuppen untergekommen wäre, wäre sie in Sicherheit, und ihr würde nichts passieren.
    Aber er behielt den Fuß auf dem Gaspedal und fuhr schneller, als er je in seinem Leben gefahren war. Vor der Abfahrt in London hatte er das Radio angedreht. Die BBC hatte vor Überschwemmungen in Ostengland gewarnt – weshalb Daniel die Geschwindigkeitsbegrenzung von zwanzig Meilen die Stunde überschritt, als er durch Dörfer fuhr.
    Die Sicht war schlecht, der Zustand der Straßen erbärmlich. Kurz nach zwei war er aus London abgefahren und hatte bis nach Mitternacht gebraucht, um Cambridge zu erreichen. Der Wagen geriet ins Schleudern, aber er schaffte es mit klopfendem Herzen, ihn wieder unter Kontrolle zu kriegen. In allen Gräben stand Wasser und sammelte sich in tiefen Pfützen am Straßenrand. Er drosselte die Geschwindigkeit ein wenig und wischte erneut über die Windschutzscheibe.
    Auf dem Rücksitz von Harolds Wagen hatte er eine
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