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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre
Autoren: Judith Lennox
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Mutter dicker. Thomasine verstand nicht, warum Mama dicker wurde, obwohl es nicht mehr viel zu essen zu gab. Dann lag eines Morgens ein winziges Baby auf dem Kissen neben ihrer Mutter. Thomasine wußte nicht, woher das Baby kam, und fürchtete, es zurückgeben zu müssen. Sie nannten es Hilda, nach Mamas Lieblingsschwester. Mama hatte Thomasine ein Foto von ihren drei Schwestern gezeigt: Hilda, Rose und Antonia. Sie lebten weit weg, in England.
    Eines Abends wurde ihr Vater krank und machte sich am nächsten Morgen auf den Weg zum Missionshospital, um Medizin zu holen. Er nahm das große Pferd, das übellaunige, auf dem er Thomasine nie reiten ließ. Bevor er ging, bat er sie, sich um Mutter und Schwester zu kümmern. Zum Abschied winkte sie mit dem Taschentuch und sah ihm hinterher, wie er durch das Tal auf die Hügel zuritt.
    Den ganzen Tag saß sie am Bett ihrer Mutter. Seit sechs Wochen, seit Hildas Geburt, war Patricia Thorne nicht mehr aufgestanden. Das Baby schlief, wurde gestillt und lag in Decken gehüllt da. Thomasine gefiel es, den warmen, samtigen Kopf zu berühren und die winzigen, seesternartigen Händchen zu betrachten. Das Baby war kleiner als ihre große Stoffpuppe.
    Als Thomas Thorne nach Einbruch der Dunkelheit nicht zurückkehrte, zerkleinerte Thomasine Gemüsewurzeln, mischte sie mit Mais und kochte Suppe. Sie hockte draußen neben dem Feuer, rührte um und dachte daran, daß die Mission acht Meilen entfernt war und das übellaunige Pferd vielleicht ein Hufeisen verloren hatte. Doch der Himmel und das Land erschienen ihr sehr dunkel, sehr leer.
    Ihre Mutter aß nur einen Löffel Suppe, den Rest verzehrte Thomasine selbst. Das Baby weinte viel, und Mamas Wangen waren rot, und ihre Stirn glänzte vor Schweiß. Thomas Thorne kehrte weder am nächsten noch am übernächsten Tag zurück.
    Mama verstand sie nicht, als Thomasine fragte, ob sie Papa nachreiten oder ob sie bleiben und sich um das Baby kümmern sollte. Mamas Haut hatte eine merkwürdig gelbliche Farbe angenommen, und ihre Augen wirkten eingefallen. Ihr Gesicht sah aus wie eine der Masken, die Thomasine im Dorf gesehen hatte. Thomasine versuchte, sie zum Trinken zu bewegen, aber das einzige Wasser, das sie finden konnte, stammte aus dem trüben Fluß. Es rann aus Mamas Mund über Kinn und Hals und auf ihr Nachthemd hinab. Das Baby hatte irgendwann zu weinen aufgehört und schlief die meiste Zeit.
    Am dritten Tag wachte Thomasine von der Stille auf. Als sie zum Bett hinüberging, glaubte sie anfangs, Mama schliefe, aber als sie ihre Hand berührte, war sie kalt. Sie begriff, daß sie jetzt, abgesehen von dem Baby, ganz allein war. Das sanfte Heben und Senken der Brust des Babys war noch zu spüren. Sie nahm an, daß die kleine Hilda ebenfalls hungrig war, und wußte, daß sie nichts hatte, um sie zu füttern.
    Thomasine zog ihren scharlachfarbenen Rock an, packte alle Wertsachen in einen Beutel und sattelte das Pferd. Mit dem Baby, das sie auf afrikanische Art auf den Rücken band, ritt sie zum Missionshospital und zu ihrem Vater.
    Southampton war ganz anders als Port Harcourt. Es war grauer und kälter, und vom Himmel fiel ein feiner Nieselregen. Als ginge man am Rand eines Wasserfalls entlang, dachte Thomasine.
    Die Tanten erwarteten sie am Hafen. In dem Durcheinander aus Schiffen, Seeleuten und Passagieren glaubte sie nicht, sie je finden zu können, aber Miss Kent – die schwarzen Knopfaugen über der spitzen Nase starr nach vorn gerichtet – zerrte sie durch die Menge und brachte sie zu den drei Frauen, die sie von Mamas Fotografie her kannte. Entzückensrufe wurden ausgestoßen, und Thomasine wurde umarmt und geküßt.
    Sie hörte Miss Kent sagen: »Wir haben den Eltern und dem Baby ein christliches Begräbnis gegeben.«
    Â»Baby?« sagte die rothaarige Tante. (Thomasine, die sich nicht erinnern konnte, wer wie hieß, bezeichnete die drei als die große Tante, die kleine Tante und die rothaarige Tante.)
    Â»Es gab einen Säugling«, sagte Miss Kent.
    Â»Sie hieß Hilda«, ergänzte Thomasine.
    Die große Tante blinzelte und begann, die Regentropfen von ihrer Brille zu wischen. Von einem der Schiffe ertönte lautes Sirenengeheul, und Thomasine erschauerte in ihrem dünnen schwarzen Mantel.
    Â»Gelbfieber, wie ich in meinem Brief geschrieben habe, Miss Harker.«
    Â»Dem armen Kind ist
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