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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre
Autoren: Judith Lennox
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Sattel zu helfen. »Willst du auch mal, Gillory?«
    Daniel kletterte in den Sattel. Nicholas rief: »Er ist ein Springer, Gillory!«, und Daniel lenkte das Pferd in die äußerste Ecke des Felds und drückte ihm die Fersen in die Flanken. Der Hengst wurde schneller und schneller, das Geräusch der Hufe klang wie Donner. Dann erhoben sich Pferd und Reiter in die Luft und sprangen behend über den Zaun hinweg.
    Nicholas ritt durch den Wald nach Hause. Die Bäume verdeckten den blaßblauen Himmel. Die Pferdehufe zerdrückten den Bärlauch entlang des Pfads, der einen betäubenden Geruch verströmte. Das Sonnenlicht, das durch die Bäume fiel, warf goldene Streifen auf das Unterholz.
    Noch immer spürte er die Berührung von Thomasines Hand. Es war seltsam, wie lange das Gefühl anhielt, als hätte sich der Druck ihrer Finger für immer in seine Handflächen eingeprägt, nachdem er ihr aus dem Sattel geholfen hatte. Als erinnerte sich seine Haut an die ihre. Dergleichen hatte er noch nie erlebt. Er wußte, daß einige seiner Schulkameraden in ähnlicher Weise auf ältere Jungen reagierten, aber Nicholas, der sich an die jedes Semester wiederholten Warnungen seines Hausvorstehers im Internat erinnerte, hatte derlei Gefühle schon immer verachtet.
    Er hörte ein Rascheln im Unterholz und sah auf. Als er in die Dunkelheit spähte, sah Nicholas zwei runde schwarze Augen, ein kleines weißes Gesicht und dicke schwarze Zöpfe. »Lally.«
    Zögernd stand seine jüngere Schwester auf. Ihre weiße Bluse war mit grünen Flecken übersät und der Saum ihres Rocks beschmutzt.
    Â»Was machst du hier?«
    Â»Dich beobachten.«
    Nicholas starrte sie an.
    Â»Dich beobachten«, wiederholte sie, »und Miss Thorne und Daniel Gillory.«
    Â»Du warst die ganze Zeit hier?« fragte Nicholas überrascht.
    Â»Ich war hinter dem Baum. Ich hab alles gesehen. Du hättest mich mitnehmen sollen. Es ist nicht nett, Leute so lange allein zu lassen.«
    Â»Es ist nicht nett«, antwortete Nicholas kühl, »sich heimlich anzuschleichen. Zu spionieren . Im Krieg werden Spione erschossen – hast du das gewußt, Lally?«
    Er bemerkte, wie sie sich mit aufgerissenen Augen ängstlich im Wald umsah. Dann steckte sie schnell den Daumen in den Mund. Obwohl sie fast dreizehn war, vier Jahre jünger als Nicholas, kam sie ihm zuweilen noch wesentlich kindlicher vor. Wie ein Baby, das Kleinste, kaum dem Kinderzimmer entwachsen. Einen Moment lang wünschte er sich, seine Mutter wäre zurück, um Lallys kränkliches Kindermädchen aus dem Bett zu scheuchen, um mit ihren Wutanfällen fertig zu werden und ihr zu sagen, sie solle nicht am Daumen lutschen. Aber dann fiel ihm ein, daß er seine Zeit sicherlich nicht mit Thomasine Thorne verbringen dürfte, wenn seine Mutter hier wäre. Plötzlich war Nicholas sehr froh, daß Sir William und Lady Blythe in London weilten, um alles für die Vermählung seiner älteren Schwester vorzubereiten.
    Eine Woche später trafen sie sich wieder auf der Wiese. Diesmal ritt Thomasine Bluebell, das Pony des Pfarrers, und Daniel hatte sich Nero geliehen. Die drei trabten von der Wiese auf den Weg hinaus. Ganz instinktiv mieden sie das Dorf und die Farmen, ohne sich darüber absprechen zu müssen.
    Wagenräder hatten tiefe Furchen in den Weg gegraben. Am Ende von Potters Field sagte Nicholas: »Komm, Gillory. Wir machen ein Rennen bis zum Deich.«
    Dann waren sie fort. Im aufgewirbelten Staub der Hufe trabte Bluebell träge hinterdrein. Das abendliche Sonnenlicht glänzte auf dem schwarzen Fell der Hengste und auf den unbedeckten Köpfen der Jungen. Sie verschmolzen ineinander, zwei dunkle Umrisse, die in dem aufstiebenden Sand zu einem Bild verschwammen. Dann erreichten sie den Deich und zeichneten sich als zwei schwarze Silhouetten vor dem Himmel ab.
    Thomasine holte sie ein. »Also? Wer hat gewonnen?«
    Daniel grinste und entblößte weiße, ebene Zähne. »Ich.«
    Nicholas war von seinem Pferd gestiegen und saß auf dem Damm. »Mist«, sagte er. »Absoluter Mist. Um eine Nasenlänge geschlagen, verdammt.«
    Er lehnte sich auf die Ellbogen gestützt zurück und streckte die langen Beine aus. »Wenn man so reitet, vergißt man alles andere, stimmt’s? Nichts sonst scheint wichtig zu sein.« Er sah weder Daniel noch Thomasine an,
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