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Die geheime Sammlung

Die geheime Sammlung

Titel: Die geheime Sammlung
Autoren: Polly Shulman
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nun wirklich als Pfand abgegeben?«
    »Mein Überzeugungsvermögen.«
    »Nein, hast du nicht. Du hast mich überzeugt, mit dir hier herauszukommen.«
    »Da musste ich auch nicht sehr überzeugend sein.«
    »Sag schon. Was war es wirklich? Wieder dein Erstgeborenes?«
    »Auf keinen Fall. Ich werde mein Erstgeborenes nie mehr abgeben. Das war zu entsetzlich.«
    »Ja, ich habe es gesehen«, sagte ich. »Es wirkte so … verletzlich.«
    Aaron nickte betroffen und nahm seinen Arm weg. Ich wechselte das Thema. »Was ist das da unten? Der East River?«
    »Nein, Dummerchen, das ist der Hudson. Du hast also deinen Richtungssinn immer noch nicht wieder?«
    »Doc Rust meint, sie arbeiten dran. Der Ring ist eine große Hilfe, aber es ist nicht dasselbe«, sagte ich.
    »Das ist blöd.«
    »Stimmt. Aber immerhin war mein Richtungssinn nie richtig gut …« Wir flogen über eine Reihe heller Lichter hinweg. »Was ist das denn?«
    »Das ist die George-Washington-Brücke.«
    »Oh, natürlich … wenn du dein Erstgeborenes wiederhast, hast du also den Schneewittchen-Spiegel zurückgegeben?«
    »Ja. Das fiese Ding musste so schnell wie möglich aus meinem Schlafzimmer verschwinden«, sagte er. »Wir sind da. Halt dich fest, ich lande.«
    Ich schaute wieder über den Rand und sah The Cloisters – das Museum für mittelalterliche Kunst auf den Hügeln des Fort Tryon Park im Norden von Manhattan. Aaron legte seinen Arm um mich und hielt mich fest auf dem Teppich, während wir verlangsamten und tiefer auf die festungsartigen Gebäude zuglitten. Wir landeten mit einem sanften Stoß in den oberen Gärten mit einer prächtigen Aussicht über den Fluss.
    Die ruhige Luft fühlte sich nach dem Flug mild an. Der Mond hatte die kahlen Bäume in Silber getaucht. Schatten flogen über Aarons Gesicht und hoben seine Wangenknochen hervor. Seine Lippen waren hübsch.
    Er holte eine Thermoskanne heraus. »Magst du Kakao?«
    »Na klar. Danke schön.«
    Ich roch an meinem Kakao. Da war noch etwas außer Schokolade drin. Zimt? Nein, Vanille. Auch nicht ganz …
    »Was ist das für ein Geruch?«, fragte ich. »Du hast doch nicht etwa den Kakao verzaubert, oder?«
    Er kicherte bösartig. »Was, machst du dir Sorgen, dass das mein geheimer Liebestrank ist? Der dich willenlos macht und hilflos meinen finsteren Plänen aussetzt? Jetzt, wo wir endlich allein sind …«
    Mein Herz schlug stärker. Ich knuffte ihn gegen die Schulter. »Was ist da wirklich drin?«
    »Ingwer.«
    »Oh.«
    Wir tranken unseren Kakao und schauten uns die Lichter jenseits des Flusses an.
    »Was hast du wirklich als Pfand dagelassen?«
    »Meinen Ehrgeiz.«
    »Du? Im Leben nicht.«
    »Mein Zeitgefühl?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Von wegen.«
    »Meine kostbarste Erinnerung – an den Moment, als ich dir das erste Mal begegnet bin?«
    »Gut, dann sagst du es mir eben nicht.«
    Er stellte seinen Kakaobecher ab, nahm mir meinen aus der Hand und stellte ihn auch hin. Er beugte sich zu mir, viel zu weit zu mir – und fiel mit mir zusammen zu Boden. »Mein Gleichgewicht«, flüsterte er mir ins Haar.
    Ich schubste ihn weg. »Au, runter von mir, du liegst auf meinem Arm.«
    Er verlagerte sein Gewicht, bewegte sich aber nicht weg. »Meine Hemmungen«, flüsterte er mir ins andere Ohr.
    Dann küsste er mich.
    Er schmeckte nach Schokolade, Ingwer und Äpfeln. Nach Frühlingsluft, Büchern, frischem Gras und Zauberei.
    »Du machst das gar nicht schlecht«, sagte ich.
    »Du auch nicht.«
    Er küsste mich noch mal. Dann küsste ich ihn.
    »Du weißt, dass du mich beinahe einer Ratte zum Fraß vorgeworfen hättest?«
    »Ich bin froh, dass sie dich nicht gefressen hat.«
    Der Mond verdüsterte sich, und ich zog mir eine Decke über. Wir küssten uns noch mal.
     
    Die Heimreise ging viel zu schnell vorbei. Mein Kopf lag in Aarons Schoß, und ich schaute in den Himmel, während er mir das Haar aus der Stirn strich. Seine Hände waren kalt, aber vielleicht war mein Gesicht auch warm. »Aaron?«
    »Hm?«
    »Was war es wirklich? Dein Pfand?«
    »Meine Farbsicht.«
    »Wirklich?«
    »Klar. Ich dachte mir, dass ich die nachts sowieso nicht brauche.«
    »Oh. Warum hast du mir das nicht einfach gesagt?«
    »Weil es so viel Spaß macht, dich zu ärgern.«
    »Es macht so viel Spaß, mich zu ärgern?«
    »Ja, es macht Spaß, dich zu ärgern.«
    »Hm.« Wir küssten uns, dieses Mal verkehrt herum.
    Der Teppich bremste und gab uns einen winzigen Stoß. Aaron schaute auf. »Schade. Wir sind schon da«,
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