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Die geheime Mission des Nostradamus

Titel: Die geheime Mission des Nostradamus
Autoren: Judith Merkle Riley
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fast eine Schindmähre, und keinen livrierten Lakai bei sich hat. Er hat mich für die Tochter eines hobereau gehalten, die zusammen mit den Tagelöhnern ihres Vaters Weizen drischt und mit Pfeil und Bogen auf Kaninchenjagd geht. Darum ist er so unhöflich gewesen. Der weiß doch gar nichts. Nein, ganz und gar nichts. Falls er wirklich so viel sehen kann, hätte er auch bemerkt, daß das Wappen meines Vaters sechzehn Felder hat, und hätte mir die Achtung entgegengebracht, die einem Menschen gebührt, dessen Stammbaum bis in die Zeit vor den Kreuzzügen zurückreicht. Schließlich bin ich zwei Jahre lang im Kloster Saint-Esprit erzogen worden, wo ich Italienisch, Musik, Sticken, Literatur und die Kunst der eleganten Konversation erlernt habe. Ich bin daran gewöhnt, in besseren Kreisen, mit erleuchteten, hehren Geistern zu verkehren. So wurde auch mein höheres, spirituelles Selbst herausgebildet, welches Personen mit einem schwerfälligen Geist einfach nicht begreifen können. Seine Grobheit ist offenkundig eine Marotte, die er sich zugelegt hat, weil er Unwissenden weismachen will, er könne aufgrund einer geheimen Macht Gedanken lesen und die Zukunft vorhersagen. Ein Scharlatan. Genau das ist er. Ein Scharlatan, dessen Geschäft das Einschüchtern von Menschen ist. Und was die Zukunft angeht, so erhebe ich mich einfach darüber, indem ich mich geistig höheren Dingen widme.
    Die Straße war mir wohlbekannt, jede Biegung, jeder Baum und jeder Stein, und dabei war ich lange nicht auf ihr gereist. Früher waren wir jeden Sommer aus unserem Stadthaus innerhalb der Mauern aufs Gut gezogen und nach der Ernte wieder zurück, doch die Zeiten waren lange dahin, desgleichen das weitläufige alte Haus meines Großvaters in der Rue de Bourgogne. Doch der Anblick der sanft gewellten Matten, auf denen hier und da weiße Schafe weideten, der vertrauten Felder und Wäldchen weckte heftige und lange vergessene Erinnerungen, die an meiner Seele zerrten. Vor meinem inneren Auge erhob sich ein Haus – nicht unseres, doch Tante Paulines unweit des Domplatzes –, und darin sah ich wieder das Zimmer mit den Gobelins, in dem das Licht golden durch die Fenster fiel und auf dem hellen Silber einer muschelförmigen Schale funkelte. Die Schale, das wußte ich noch – so wenig trügt die Erinnerung –, ist voll kleiner Bonbons, die nach Fenchel schmecken.

    »Na mach schon, nimm dir eins«, sagt die Tante meiner Erinnerung. Mir kommt sie wie eine Märchenkönigin vor. Unter der eckigen Leinenhaube lugen dunkelbraune Locken hervor, die von einem schimmernden grünen Seidennetz gehalten werden. Eine hohe Halbkrause umrahmt ihr Gesicht, und über ihrem Tageskleid trägt sie ein langes, fließendes, ärmelloses Überkleid aus Brokat. Sie ist schön; alles an ihr raschelt, funkelt und duftet nach getrockneten Rosen und Maiglöckchenessenz. Die hellroten Falten ihres Unterkleides mit dem breiten Saum faszinieren mich – auf der Oberseite schimmern sie nämlich in einer anderen Farbe als in den tieferen Lagen. Ein Zaubergewand. Ich greife in die Schale, und Mutter wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu. Sie ist wieder einmal schwanger, ihr Kleid aus dunkelgrauer Wolle ist verblichen, die Ellenbogen ihrer Überärmel sind abgewetzt. Ich bin sechs und die Älteste. Eine Magd hat meine kleine Schwester Laurette auf dem Arm, ein rundgesichtiges Kleinkind mit rosigen Wangen und goldenen Löckchen. Mutter hat Annibal, meinen vierjährigen Bruder, an der Hand. Auch er trägt noch Röcke und hat lange hellbraune Locken. Und Hamsterbäckchen, weil er sich den Mund mit Bonbons vollgestopft hat.
    »Man sollte sie nicht verwöhnen«, meint Mutter.
    »Sie sieht nicht aus wie die anderen«, sagt Tante Pauline.
    »Sie ähnelt ihnen von Tag zu Tag weniger«, pflichtet ihr Mutter mit mattem Ausdruck bei. »Da sieh sie dir an. Sie hat sich selbst das Lesen beigebracht und läuft umher, statt wie gewöhnliche Kinder zu spielen – sie behauptet, daß sie Feen sucht. Was soll ich nur machen, Pauline?« Die Erwachsenen sagen so komische Sachen. Die Großen sind so langsam, so aufgeblasen und langweilig. Ich möchte, glaube ich, nie erwachsen werden.
    »Hat er einen Verdacht?«
    »Noch nicht.« Tante Pauline beugt sich im Stuhl vor. Der hat Beine, die wie Löwentatzen geschnitzt sind. Ich möchte unter dem Stuhl nachsehen, ob er da auch einen Löwenbauch hat, aber Tante Paulines Kleid ist zu bauschig.
    »Gib sie mir«, sagt Tante Pauline mit funkelndem Blick. »Gib
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