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Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Martina Kempff
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trug es Ezras Kleidung.
    Während die tanzenden Sterne vor seinen Augen verblassten, begann er zu begreifen. Das schöne Geschöpf war keinem Himmel entstiegen, sondern ihm in männlicher Vermummung die ganze Reise über nah gewesen. Welch eine Ungeheuerlichkeit: Der Baumeister zog keinen Sohn groß, sondern eine Tochter!
    Wie nur war es dem Kind und seinem Vater gelungen, ihn – wie alle in Bagdad – so zu täuschen? Warum? Und wie hatten ihm, dem gewitzten Fernhändler, die weiblichen Gesichtszüge unter den wirren Haarzotteln entgehen können? Ihm, der sich auf seine Beobachtungsgabe und Intuition so viel zugutehielt? Der jeden Betrug von Weitem wittern konnte?
    »Weil es kein Betrug ist, sondern eine wahrhaftige Notwendigkeit«, hatte ihm Iosefos vor dem Haus auf die hingestotterte Frage unwillig erwidert und zur Eile gedrängt. Des Baumeisters Traum von einem friedlichen Ruhestand in Konstantinopel war geplatzt; die Vergangenheit hatte ihn eingeholt und gefährdete jetzt auch Ezra; da blieb ihnen in der Tat nur noch die Flucht in das ferne Aachen .
    Sein erstes Ziel hatte Isaak also erreicht.
    »Wie ist der Name deiner Tochter?«, fragte der Jude, fest entschlossen, sämtliche Geheimnisse, mörderische und geschlechtliche, um des Baumeisters Familie zu lüften. Mürrische Einsilbigkeit würde er sich von diesem Reisebegleiter nicht länger bieten lassen. Er hatte ihm das Leben gerettet und somit Anspruch auf die Wahrheit.
    »Nun?«, hakte er nach, als Iosefos wieder einmal schwieg.
    »Er heißt Ezra«, knurrte der Baumeister. »Für die Dauer unserer Reise bleibt er der Knabe, als der du ihn kennengelernt hast und als der er aufgewachsen ist.«
    »Warum ist sie so aufgewachsen? Und warum darf sie nicht sprechen?«
    »Er möchte nicht«, meldete sich die zwar kehlige, aber dennoch unverkennbar weibliche Stimme, die nach diesen drei Worten abermals verstummte. Wie auch die ihres Vaters, dem nicht einmal Dankbarkeit seinem Lebensretter gegenüber die Zunge löste. Ein ziemlich schäbiges Verhalten, fand Isaak, und lieferte sich selbst die Erklärung: Der Baumeister vermutete wohl, er, Isaak, hätte ihn an die Söhne des Markarios verraten, um ihn retten und zur Erfüllung seines Auftrags zwingen zu können. Genauso hatte der ursprüngliche Plan des Fernhändlers ja auch ausgesehen.
    Auf der langen Reise versuchte Isaak also, Dunja auszuhorchen. Erst nach der Offenbarung vor dem weißen Haus hatte er begriffen, weshalb der Baumeister darauf bestanden hatte, die Sklavin auf die Reise mitzunehmen. Seine frühere Annahme, sie wärme Iosefos das Lager, war nur ein Splitter der Erklärung. In der Hauptsache kümmerte sich die Sklavin wohl um jenen weiblichen Teil Ezras, der nur mithilfe einer Frau vor der Außenwelt verborgen werden konnte. Doch auch die treue Dunja erwies sich nicht als sehr gesprächig. Sie ließ sich einzig einen Satz entlocken: »Der Weisen Zunge wohnt in ihrem Herzen, der Törin Herz in ihrer Zunge.« Und so blieb sie Isaak auch die Antwort auf seine Frage schuldig, worin denn die Weisheit bestehe, ein Mädchen für einen Knaben auszugeben.
    »Es wäre schön, wenn du mit mir reden würdest«, begann Isaak, als er Ezra außerhalb der Hörweite ihres Lagers geführt hatte. Er bückte sich zu ein paar kleinen Pflänzchen hinab. »Ich weiß doch Bescheid. Vor mir brauchst du dich nicht mehr zu verstecken. Also erzähl mir von dir. Warum darfst du nicht als Mädchen leben, sondern sollst ein Knabe sein?«
    Freundlich lächelnd, schüttelte Ezra den Kopf und öffnete den Hanfbeutel, damit Isaak die ersten grünen Geheimnisse des fränkischen Forsts hineinstecken konnte.
    »Eine Ahnung von Brennnessel«, sagte Isaak und hielt dem Knabenmädchen in einem Tuch ein winziges flaumiges Zackengewächs hin.
    »Vorsicht, Ezra, es ist noch klein, aber es beißt schon. Und es rötet und wölbt die Haut. Wir können damit unsere Suppe würzen, das ist gut für alte Knochen und junges Blut, genau wie hier dieser Winzling Erdholler.« Er rupfte ein weiteres Kraut aus. »Das nennen wir Löwenzahn, und der schmeckt, wenn er so jung ist wie jetzt.«
    Gut, dachte er, innerlich seufzend, wenn das Knabenmädchen nicht reden will, führe ich eben weiterhin Selbstgespräche. Sie ist ein seltsames Geschöpf. Warum sagt sie nichts? Noch nie ist mir ein weibliches Wesen begegnet, das ungenutzt die Gelegenheit verstreichen lässt, über sich selbst zu sprechen.
    Tatsächlich verspürte Ezra nicht das geringste Bedürfnis, sich
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