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Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Martina Kempff
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Hinweis, das Kind könne das Zeichentalent der Mutter geerbt haben, pflanzte sie in den Kopf des Baumeisters ein Saatkorn, das nach nur einer Nacht des Nachdenkens keimte.
    Am nächsten Morgen bat Iosefos den Allmächtigen Aller um Verständnis und Verzeihung. Zudem erflehte er ein Zeichen, dass ihm mit dem Kind gewissermaßen eine neue rechte Hand gewachsen war, die ihm in späteren Jahren helfen könnte, zu Ehren des Höchsten die schönsten Gotteshäuser der Welt zu bauen. Sicherheitshalber tauchte er das Mädchen im Namen des Christengottes dreimal im Wasser unter und nannte es Theresa, nach der griechischen Großmutter. Dann vertraute er den Säugling dem Gott Aminas an, gab ihm mit dem Namen Ezra den Wunsch nach Zufriedenheit mit und schwor, das Kind im muslimischen Glauben zu erziehen.
    Das ersehnte Zeichen ließ nicht lange auf sich warten: Sobald das Kind greifen konnte, krallten sich die kleinen Finger an dem Kalam fest, den Iosefos ihm eines Abends hinhielt. Ebenjenes zur Feder zugeschnittene Schilfrohr, mit dem Amina ihre Zeichnungen angefertigt hatte. Diese erste manifeste Äußerung seines Kindes überwältigte Iosefos. Dunja war erleichtert und ließ alle anderen Schilfrohrstücke verschwinden. Die wochenlange Übung hatte sich ausgezahlt.
    Iosefos pries den Allmächtigen Aller, der sein Kind gnädig und mit seinem Los offenbar zufrieden aufwachsen ließ. Als Ezra etwa fünf Jahre alt war, bat der Vater, sie möge das von Dunja kunstvoll wirr ins Gesicht gekämmte Haar aus der Stirn nehmen. Er erschrak zutiefst. Als hätte der Teufel sie gezeichnet, prangte mitten auf der hohen weißen Stirn seiner Tochter ein schwarzes Mal! Wie zum Hohn leuchteten ihm aus dem Kindergesicht darunter Aminas klare graugrüne Augen entgegen. Verstört zerzauste der Vater dem Kind wieder das Haar und drückte ihm den Kalam in die Hand. Und erwog niemals mehr, aus dem Sohn die Tochter zu machen, die sie war.
    Ezra wuchs heran, spielte mit Schilfrohr und beobachtete die Welt um sich. Sie sah, wie sich Mädchen herausputzten, um Männern zu gefallen. Sie begegnete gebildeten Frauen, die mit ihrem Wissen nicht die Welt bereichern wollten, sondern sich selbst durch Heirat. Was nutzte es, viele Sprachen zu beherrschen, die Philosophie, die Heilkunde, die Propädeutik der Wissenschaft und den Kommentar des Arztes Galen zu Schriften des Hippokrates zu kennen, Tazkira gelesen, Rätsel gelöst, Arithmetik, Astronomie, Geheimwissenschaft und Bücher der Sch ā f iiten studiert zu haben sowie gewandt in Logik, Rhetorik und der Kunst in der Berechnung der Gebetszeiten zu sein, wenn nichts davon der Menschheit zugutekam, sondern alles nur einem einzigen Mann?
    Das Leben eines jeden Weibes in Bagdad schien ausschließlich darauf angelegt zu sein, einen Mann zu erobern, der sich mit ihm schmückte. Da war es doch entschieden vorteilhafter, gleich ein Leben als Mann führen zu können. Der nicht reden, singen, zwitschern oder sich umständlich herausschmücken musste, um zu gefallen und zu bezirzen. Der etwas Eigenes schaffen und damit die Welt bereichern konnte, auch wenn es vorerst nur daraus bestand, den Anordnungen des Vaters auf dem Papyrus Folge zu leisten.
    Wenn ich zuhöre, habe ich den Nutzen, wenn ich spreche, haben ihn andere, sagte sich Ezra, als sie ein Jahr zuvor beschloss, so lange zu schweigen, bis sie wirklich etwas mitzuteilen hatte. Sie war froh, sich nicht mit eitlen Äußerlichkeiten aufhalten zu müssen, und dankbar, ihre Kunst in die Welt entlassen zu dürfen. Über den Auftrag des Kalifen hatte sie sich gefreut, war neugierig gewesen auf die Welt jenseits der Wüste und mindestens ebenso entsetzt wie Isaak, als die Reise in Konstantinopel ihr Ende gefunden zu haben schien.
    Sie wusste nicht, welches Verbrechen sich ihr Vater dort einst zuschulden hatte kommen lassen, warum ihm die Rächer noch nach so vielen Jahren aufgelauert, ihn aufgespürt und beinahe fortgeschleppt hatten, aber sie war unendlich froh, nun doch nicht in die noble Gesellschaft Ostroms eingeführt zu werden, von der ihr die Vaterschwester Theodora so verheißungsvoll vorgeschwärmt hatte.
    Das ungestüme Geschehen im weißen Haus, das mitten in die Anprobe eines besonders üppigen Kleides geplatzt war, hatte sie zwar verwirrt und entsetzt, ihr aber gleichzeitig gezeigt, wie beherzt sie auf jähes Ungemach reagieren konnte. Als sich alle anderen für verloren hielten, hatte sie in ihrem weißen Unterkleid das Heft in die Hand genommen. Sie hatte
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