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Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag

Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag

Titel: Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag
Autoren: Patrick Rothfuss
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wert.
    Doch er blieb spurlos verschwunden, was uns vor ein großes Rätsel stellte. Marten hatte nur eine Spur gefunden, die vom Lager wegführte, die des geflohenen Wachpostens. Wo aber war der Anführer?
    Ich war verwirrt und ärgerte mich zugleich, denn ich hatte sein Gesicht sehen wollen. Dedan und Hespe glaubten, er sei in dem auf den Blitzschlag folgenden Chaos entkommen und vielleicht durch den Bach gewatet, um keine Spuren zu hinterlassen.
    Marten machte dagegen, als wir die Leiche nicht fanden, einen beklommenen Eindruck. Er murmelte etwas von Dämonen und hielt sich von dem zerstörten Zelt so weit wie möglich fern. Ich führte das auf seinen Aberglauben zurück, muss aber zugeben, dass das Verschwinden der Leiche mir selbst auch nicht geheuer war.
    In dem zerstörten Zelt fanden wir einen Tisch, ein Feldbett, einen Schreibtisch und zwei Stühle, alles zerbrochen und zu nichts mehr zu gebrauchen. Die Schublade des Schreibtisches enthielt einige Papiere.Ich hätte viel darum gegeben, sie lesen zu können, doch die Nässe hatte ihnen zu sehr zugesetzt und die Tinte war verlaufen. Außerdem fanden wir eine Kassette aus einem schweren, harten Holz, die nur wenig kleiner war als ein Brotlaib. Der Deckel trug das Familienwappen Alverons, und sie war fest verschlossen.
    Sowohl Hespe als auch Marten gaben zu, eine gewisse Erfahrung mit dem Knacken von Schlössern zu haben, und da ich neugierig auf den Inhalt der Kassette war, ließ ich sie gewähren, solange sie das Schloss nicht beschädigten. Sie versuchten es beide, doch vergeblich.
    Nachdem Marten zwanzig Minuten an dem Schloss herumgefummelt hatte, warf er die Hände in die Luft. »Ich krieg es nicht hin, wie es geht.« Er streckte sich und stützte die Hände ins Kreuz.
    »Dann werde ich mal mein Glück versuchen«, sagte ich. Ich hatte eigentlich gehofft, einer der beiden könnte die Kassette öffnen. Schlösser zu knacken gehört nicht zu den Fähigkeiten, derer sich ein Arkanist rühmen sollte. Es passte auch nicht zu dem Ruf, den ich mir aufzubauen hoffte.
    »Im Ernst?« Hespe zog die Augenbrauen hoch. »Du bist ja wirklich ein kleiner Taborlin.«
    Ich dachte an die Geschichte, die Marten einige Tage zuvor erzählt hatte. »Natürlich«, lachte ich. Dann rief ich mit meiner besten Taborlin-der-Große-Stimme
»Edro!«
und schlug mit der Hand auf die Kassette.
    Der Deckel sprang auf.
    Ich war genauso überrascht wie die anderen, verbarg es aber besser. Offenbar hatte Marten oder Hespe das Schloss bereits geknackt, aber der Deckel klemmte. Wahrscheinlich war das Holz in der tagelangen Feuchtigkeit aufgequollen und hatte sich erst auf meinen Schlag hin gelöst.
    Aber das wussten die anderen nicht. Sie starrten mich an, als hätte ich die Kassette soeben vor ihren Augen in Gold verwandelt. Sogar Tempi hatte die Augenbrauen hochgezogen.
    »Guter Trick, Taborlin«, sagte Hespe, offenbar unsicher, ob ich mir einen Scherz mit ihnen erlaubte.
    Ich entschied mich, nichts zu sagen, und steckte meine behelfsmäßigen Dietriche wieder zurück in eine Tasche meines Mantels.Wenn ich ein Arkanist werden wollte, dann am besten gleich ein berühmter.
    Mit großer Geste hob ich den Deckel und blickte hinein. Als Erstes sah ich einen dicken, zusammengefalteten Bogen Papier. Ich nahm ihn heraus.
    »Was ist das?«, fragte Dedan.
    Ich hielt ihn hoch, damit alle ihn sehen konnten. Es handelte sich um eine sorgfältig gezeichnete Karte der Gegend, auf der nicht nur der genaue Verlauf der Straße, sondern auch Bauernhöfe und Flüsse verzeichnet waren. Im Westen waren die Dörfer Crosson und Fenhill und das Wirtshaus ZUM GÜLDENEN PENNY eingetragen und namentlich beschriftet.
    »Und was ist das?«, fragte Dedan und zeigte mit seinem dicken Finger auf ein unbeschriftetes Kreuz tief im Wald südlich der Straße.
    »Ich glaube, das ist das Lager«, antwortete Marten. »Direkt an diesem Bach.«
    Ich nickte. »Wenn das stimmt, liegt Crosson näher, als ich dachte. Wenn wir von hier geradewegs nach Südosten gehen, sparen wir uns mehr als einen Tagesmarsch.« Ich sah Marten an. »Einverstanden?«
    »Lass mich die Karte sehen.« Ich gab sie ihm und er studierte sie aufmerksam. »Sieht so aus«, nickte er. »Ich hätte nicht gedacht, dass wir so tief im Süden sind. Auf dem direkten Weg sparen wir uns mindestens zwei Dutzend Meilen.«
    »Das wäre mir sehr recht«, warf Hespe ein und rieb ihr verbundenes Bein. »Oder will einer der Herren mich tragen?«
    Ich wandte meine Aufmerksamkeit
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