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Die Freundin meines Sohnes

Die Freundin meines Sohnes

Titel: Die Freundin meines Sohnes
Autoren: Lauren Grodstein
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Sowjetunion.
    Aber das war 1991. Lange her. Und heute frage ich Sie: Gibt die Entwicklung mir nicht recht? Gefährliche Atomwaffen, das Scheitern der russischen Armeeführung, eine beängstigende Zentralisierung des weltweiten Ölmarkts? Ein autokratischer KGB-Mann an der Spitze des Staates? Steigende AIDS-Raten, ein immer stärkeres Wohlstandsgefälle, das Land mit der größten Fläche auf dem Planeten – ich frage dich, Iris, gibt die Entwicklung mir nicht recht? Ist es so schwer vorstellbar, dass ich rechtgehabt haben könnte?
    In dem Strandhaus hatten Iris und Joe ihr Schlafzimmer im zweiten Stock, Elaine und ich hatten unseres eine Etage tiefer. Nach Mitternacht hörten wir die beiden dort oben, und obwohl wir uns bemühten wegzuhören, war es fast jede Nacht so. Wir sahen uns an und verdrehten die Augen, selber wachten wir meist in unzerwühlten Laken auf.
    Mittlerweile habe ich die Sterns jetzt schon fast ein Jahr lang nicht mehr gesehen, und ich schlafe nicht mehr neben meiner Frau. Die ganzen Jahre über waren wir als Quartett zusammen, von der Universität in Pittsburgh an und auch später, wir sind in dieselbe Stadt in New Jersey gezogen, haben im Urlaub Strandhäuser gemietet, haben unzählige Male zusammen zu Abend gegessen, uns wechselseitig als Vormund für unsere Kinder eingesetzt, sollte uns das Unvorstellbare zustoßen. Ich habe eigentlich einen Bruder, einen leiblichen Bruder, ich mag ihn aber nicht besonders. Und ichhabe einen besten Freund, der mir wie ein Bruder fehlt, mit dem ich womöglich jedoch nie wieder sprechen werde.
    Die Sowjetunion löste sich auf, und das brachte manch Trauriges mit sich, aber es war nicht das Schlimmste, was passieren konnte.
     
    In meinem kleinen Park am Hudson packt der letzte Angler langsam mit arthritischen Fingern seine Sachen zusammen. Als er sich umdreht und seine Kühltasche aus dem Auto holt, merke ich, dass er beim Gehen ein kleines bisschen schlurft, vermutlich ist das noch nicht mal seiner Frau aufgefallen. Höchstwahrscheinlich Parkinson, ein Neurologe könnte das noch besser beurteilen. Allein in den letzten Monaten habe ich eine Handvoll Parkinsonverdächtige an Spezialisten überwiesen, darunter einen, bei dem es mir das Herz gebrochen hat, einen alleinerziehenden Vater von 37. Neuerdings sehe ich diese Krankheit überall.
    »He, Arschloch!«
    Der Angler und ich drehen uns um. Das rot-weiße Schnellboot liegt ungefähr fünf Meter von meiner Parkbank entfernt im Wasser, der junge Kapitän, die Brille um den Hals gehängt, hatte sich aufs Deck gehockt.
    »Sie wissen, wer ich bin?«, ruft der Kerl.
    Es dauert einen Moment, aber tatsächlich, ich weiß, wer er ist: Roseanne Craigs Bruder. Ein übler Geselle, er hat seine Schwester, meine Patientin Roseanne, gequält. Sie haben beide im Autohaus Craig als Verkäufer gearbeitet. In den vergangenen Monaten ist er ständig irgendwo aufgetaucht, wo ich gerade war: in der Schlange an der Kasse im Grand Union, beim Biereinkauf bei Hopwood Liquors. Vorigen September hatte er mir sogar an meinem Audi zwei Reifen aufgeschlitzt, bevor ich den Wagen in Zahlung für den Escort gab, den er wohl nicht als meinen erkennt. Ein schon etwasbetagter Patient hatte ihn dabei beobachtet und die Cops gerufen, aber ich hatte keine Anzeige erstattet.
    »Wir kriegen dich dran, Dizinoff!«
    Bedächtig lege ich die Hände auf die Knie, bedächtig stehe ich auf. »Verfolgen Sie mich, Craig?«
    »Wir kriegen dich dran! Ich wollt’s dir bloß sagen! Mach dich darauf gefasst!« Seine Stimme tönt verzerrt über das Wasser.
    »Sind Sie mir wirklich gefolgt?«
    »Ich folge Ihnen nicht, Dizinoff. Ich warne Sie.«
    »Sehr nett von Ihnen«, sage ich. Woher wusste er, dass ich in diesem Park sein würde? Warum hat er ein Schnellboot? Ich blicke flussauf- und flussabwärts, ohne recht zu wissen, wen oder was ich zu entdecken erwarte, aber irgendetwas erwarte ich: ein Kamerateam, den langen Arm des Gesetzes.
    »Ich krieg dich!«, brüllt der junge Mensch in dem Boot.
    »Sie sollten von hier verschwinden«, nuschelt der Angler in meine Richtung. Er schlitzt einen Blaufisch auf, sauber durchtrennt die Klinge seines Messers die perlmuttgraue Haut. Mit der bloßen Hand zieht er die Innereien heraus und wirft sie in den Fluss zurück, wo sie kurz das Wasser trüben, bevor sie untergehen. Ich will nicht von hier verschwinden. Das ist mein Park. Das ist ein Ort, an dem ich noch sein darf.
    »So einer wie der …«, sagt der Angler mahnend.
    »Er
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