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Die Freude am Leben

Die Freude am Leben

Titel: Die Freude am Leben
Autoren: Emile Zola
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werde, mit jenem Schauer, der ihn vor Angst würgte. Seit er beschlossen hatte, in Bonneville sein Leben zu fristen, blieb ihm ein einziger beunruhigender Gedanke, daß er nämlich in dem Zimmer sterben würde, in dem seine Mutter gestorben war; und er ging nicht ein einziges Mal die Treppe hinauf, ohne sich zu sagen, daß eines Tages unvermeidlich sein Sarg dort herunterkommen würde. Der Eingang zum Flur verengte sich, es gab dort eine schwierige Biegung, über die er sich ständig beunruhigte, weil er sich überlegte, wie es die Männer wohl anstellen würden, ihn dort herauszutragen, ohne anzustoßen. In dem Maße, wie das Alter jeden Tag ein wenig von seinem Leben mitnahm, beschleunigte dieser Gedanke an den Tod den Verfall seines Seins, zerstörte ihn dergestalt, daß er seine letzten Manneskräfte vernichtete. Er war am Ende, wie er selber sagte, nunmehr überflüssig; er fragte sich, wozu er noch arbeiten sollte, und erschöpfte sich mehr und mehr in der Stumpfsinnigkeit seiner Langeweile.
    »Noch einmal zu Großvater!« rief Pauline.
    Chanteau vermochte nicht einmal die Hände auszustrecken, um den kleinen Paul aufzufangen und festzuhalten. Mochte er auch die Knie spreizen, die so zerbrechlichen kleinen Finger, die sich an seine Hose klammerten, entrissen ihm langgezogene Seufzer. Das Kind war an das endlose Stöhnen des alten Mannes schon gewöhnt, da es in seiner Nähe lebte und sich mit seinem kaum erwachten Verstand zweifellos vorstellte, daß alle Großväter so leiden müssen. Als es jedoch an diesem Tage in der hellen Sonne auf Chanteaus Knien gelandet war, hob es sein Gesichtchen, hörte zu lachen auf und sah den Großvater mit seinen unsicheren Augen an. Die beiden unförmigen Hände schienen scheußliche Klumpen aus Fleisch und Gichtknoten zu sein; das von roten Falten durchfurchte, vom Leiden zerquälte Gesicht war wie gewaltsam auf die rechte Schulter gekehrt, während der ganze Körper Buckel und Risse hatte wie ein schlecht zusammengeleimter steinerner alter Heiliger. Und Paul schien verwundert, ihn im Sonnenschein so krank und so alt zu sehen.
    »Noch einmal! Noch einmal!« rief Pauline.
    Sie, die vor Heiterkeit und Gesundheit bebte, trieb ihn immer wieder von einem zum anderen, vom hartnäckig im Schmerz befangenen Großvater zu dem bereits vom Entsetzen vor dem Morgen verzehrten Vater.
    »Der da wird vielleicht einer weniger dummen Generation angehören«, sagte sie plötzlich. »Er wird nicht die Chemie beschuldigen, daß sie ihm das Leben verdirbt, und er wird glauben, daß man leben kann, auch mit der Gewißheit, eines Tages sterben zu müssen.«
    Lazare lachte verlegen.
    »Ach was!« murmelte er. »Er wird die Gicht bekommen wie der Vater, und seine Nerven werden noch zerrütteter sein als meine ... Sieh doch nur, wie schwach er ist! Das ist das Gesetz der Degenerierung.«
    »Willst du wohl schweigen!« rief Pauline. »Ich werde ihn großziehen, und du wirst sehen, ob ich einen Mann aus ihm mache!«
    Schweigen trat ein, während sie den Kiemen in einer mütterlichen Umarmung wieder an sich nahm.
    »Warum heiratest du nicht, wenn du Kinder so gern hast?« fragte Lazare.
    Sie hielt verblüfft inne.
    »Aber ich habe doch ein Kind! Hast du es mir nicht gegeben? Heiraten! Nie im Leben!«
    Sie wiegte den kleinen Paul, sie lachte lauter und erzählte scherzend, daß Lazare sie zum großen heiligen Schopenhauer bekehrt habe, daß sie Jungfrau bleiben wolle, um an der allgemeinen Erlösung mitzuwirken; und in der Tat war sie die Entsagung, die Nächstenliebe, die über die schlechte Menschheit ausgebreitete Güte. Die Sonne ging im unermeßlichen Meer unter, vom verblaßten Himmel senkte sich heitere Ruhe herab, die Unendlichkeit des Wassers und die Unendlichkeit der Luft nahmen die gerührte Milde eines schönen, sich neigenden Tages an. Nur ein kleines weißes Segel in weiter Ferne setzte noch einen Funken da hinein, der erlosch, als das Gestirn unter die gerade und einfache große Linie des Horizonts hinabgestiegen war. Jetzt sah man nur noch, wie sich die Dämmerung langsam auf die reglosen Fluten herabsenkte. Und mit ihrem tapferen Lachen stand Pauline aufrecht auf der vom Dunkel bläulich schimmernden Terrasse zwischen ihrem niedergedrückten Cousin und ihrem ächzenden Onkel und wiegte noch immer das Kind. Sie hatte auf alles verzichtet, aus ihrem strahlenden Lachen tönte das Glück.
    »Wird denn heute abend nicht gegessen?« sagte Louise, die in einem koketten grauseidenen Kleid
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