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Die Frau ohne Gesicht

Die Frau ohne Gesicht

Titel: Die Frau ohne Gesicht
Autoren: Pekka Hiltunen
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auch über die Vorstellung, dass man einen Menschen anhand der Zahl seiner Sexpartner definierte.
    »Lass gut sein, Lia«, beschwichtigte Mari. »Gentlemen, die Frage ist unter ihrer Würde. Aber sie entspricht wohl den Regeln und ist womöglich auch menschlich interessant. Allerdings auf ziemlich niedrigem Niveau. Wenn es dir recht ist, Lia, versuche ich sie zu beantworten.«
    Lia nickte widerstrebend.
    Sie weiß es. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich möchte, dass sie es ausspricht .
    »Es ist sonnenklar, dass Lia, wie viele junge Frauen, ein sexuell aktives Leben führt … die nächste Zahl ist fünfzig.«
    Die Männer klatschten wild, dazu johlten sie so laut, dass sich alle Pubbesucher nach ihnen umdrehten.
    »Fünfzig Männer! Fünfzig Männer!«
    Lia schnitt ihnen eine Grimasse. Diese blöden Schnapsnasen.
    »Es stimmt doch?«
    »Natürlich«, sagte Lia.
    Ihre Kollegen pfiffen und erkundigten sich nach Maris Begründung.
    »Woraus kann man das schließen? Daraus, wie tief das Dekolleté ist?«
    Mari sah Lia an und erklärte: »Man kann es eigentlich aus nichts direkt schließen. Ich habe intuitiv geantwortet. Und Lia hat den Blick einer unabhängigen Person.«
    »Verdammte Scheiße, ihr seid alberne kleine Jungs«, fauchte Lia.
    Sie ließ die lärmende Gruppe sitzen und ging zur Theke. Sam und Timothy fragten Mari, was sie als Gewinnerin der Wette trinken wolle, doch sie stand ebenfalls auf und folgte Lia.
    »Tut mir leid«, sagte sie. »Das ging unter die Gürtellinie.«
    »So ist das eben. Wenn die Jungs saufen, werden ihre Geschichten früher oder später schlüpfrig.«
    Der Mann hinter der Bar sah sie fragend an. Mari schüttelte den Kopf und schlüpfte in ihren Mantel.
    »Du bist ein Ass im Schlussfolgern«, sagte Lia.
    »Danke. Und danke dafür, dass ich bei deiner Geburtstagsfeier dabei sein durfte.«
    Lia sah Mari zu, wie sie sich zum Aufbruch bereitmachte. Sie hatte das seltsame Gefühl, dass es eigentlich weitergehen sollte.
    »Gäbe es noch was zu sagen?«
    Mari lächelte.
    »Kann sein«, sagte sie. »Wollen wir noch irgendwo hin?«

4.
    Die Nacht war klar, man spürte die aufsteigende Kälte. Ein schwacher Wind strich Lia und Mari über das Gesicht.
    Mari hatte ein Taxi bestellt, und sie waren zum Greenwich Park gefahren. Der Park war von einer hohen Backsteinmauer umgeben, und die Tore waren verschlossen, aber Mari wollte gar nicht hinein. Sie ging an der Mauer entlang, auf einem Weg, der immer höher einen Hügel hinaufführte.
    Oben angekommen, musste Lia stehen bleiben und sich umsehen. Der Anblick war unwirklich – eine magische Stadt lag ihr zu Füßen. Sie hatte London noch nie aus dieser Richtung, vom Süden her gesehen. Unter ihr schlängelte sich schimmernd die Themse, dahinter ragten die alten Hafenviertel der Isle of Dogs auf, dann die Hochhäuser von Mile End, Whitechapel, Wapping und der City. Sie waren zwar nicht zu sehen, doch Lia wusste, dass sich daran die schönsten Stadtteile Londons anschlossen: Bloomsbury, Covent Garden, Marylebone, Mayfair.
    Obwohl Lia London immer zu groß gefunden hatte, erkannte sie doch seine Schönheit. Die Hochhäuser störten die Stimmung, die die alten Gebäude schufen, nicht, sondern fügten sich harmonisch in die Großstadt ein. Und irgendwo dort in der Dunkelheit lag auch Hampstead, ihr Zuhause.
    Der kalte Wind trieb Lia Tränen in die Augen, sie wischte sie ab.
    Dann folgte sie Mari, die weitergegangen war, bis zu einem kleinen Gebäude an der Mauer, das aussah wie der Schuppen des Parkwächters. Sie setzten sich auf die windgeschützte Holzbank, die vor dem Häuschen stand. Von der Stadt sah man nur die dunkle Silhouette und Lichter, viele Lichter.
    Mari holte eine kleine Kognakflasche und zwei Gläser aus ihrer Handtasche.
    »Voll ausgerüstet. Schleppst du die immer mit dir herum?«, fragte Lia belustigt.
    »Nur bei Bedarf«, gab Mari zurück.
    Sie goss Kognak ein und reichte Lia ein Glas. Schweigend betrachteten sie das nächtliche London. Kein Laut drang zu ihnen herauf, es war fast vollkommen still.
    »Jetzt spüre ich endlich Geburtstagsstimmung«, sagte Lia.
    Da Lia den Greenwich Park kaum kannte, erzählte Mari ihr ein wenig über die Anlage. Sie deutete auf die Grünflächen und erklärte, dass sich hinter den Bäumen – von hier aus kaum zu sehen – ein berühmter Aussichtspunkt befinde, das Königliche Observatorium. Und selbst abends und nachts sei es hier erstaunlich friedlich. Keine Obdachlosen wie in den offenen Parks, kein
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