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Die Frau ohne Gesicht

Die Frau ohne Gesicht

Titel: Die Frau ohne Gesicht
Autoren: Pekka Hiltunen
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Drogenhandel, keine Prostitution. In der Umgebung gebe es viele Prachtbauten, deshalb werde die Gegend gut bewacht.
    Das Gespräch kam auf das, was sie verband: Finnland.
    »Ein ernstes Land«, sagte Mari.
    »Ein sehr ernstes Land«, stimmte Lia zu.
    Sie stießen auf Finnland an. Der Kognak fachte Lias angenehmen Schwips, der während der Taxifahrt fast erloschen war, wieder an. Sie erkannte rasch, dass Mari ein ähnlich kompliziertes Verhältnis zu Finnland hatte wie sie selbst. Einiges dort liebten, anderes hassten sie, und beide lebten weitgehend losgelöst von ihrem Heimatland. Das brachte eine erleichternde Gleichgültigkeit mit sich.
    Vielleicht war dieses Gefühl allen gleich, die aus freien Stücken ins Ausland gezogen waren.
    Sie sprachen über Finnland, um sich gegenseitig besser kennenzulernen.
    »Finnland leidet unter dem Drang, sich ständig aufwerten zu müssen«, meinte Mari. Wie viele kleine Länder habe sich auch Finnland aus einigen historischen Ereignissen die Illusion geschaffen, eine große Vergangenheit und Kultur zu besitzen.
    »Dabei liegt Finnlands wahrer Wert nicht in seiner Einzigartigkeit, sondern in der gesellschaftlichen Stabilität, die seine Bürger zu tugendhaften Menschen macht.«
    »Verdammt gut gesagt«, lobte Lia.
    »Das ist mir irgendwann klar geworden. Und jetzt ist es meine Standardantwort, wenn mich jemand fragt, wie Finnland ist.«
    Mari erzählte von ihrer Verwandtschaft in der Gegend von Pori und in Häme. Dabei sprach sie über alles so präzise, als hätte sie niemals halbfertige Gedanken im Kopf. Maris Nachname war Rautee. Ihre weitläufige Familie verband zweierlei: sozialistisches Denken und konservative Lebensweise.
    »Man könnte meinen, da gäbe es einen Widerspruch, aber beides lässt sich gut miteinander verbinden.«
    Die linke Haltung der Familie hatte sich abgeschwächt, aber im Grunde ging man davon aus, dass sich alle zu Rot bekannten. Gleichzeitig hatte man immer danach gestrebt, seinen Besitz zu mehren.
    »Meine Verwandten sind Sozialisten mit großen Eigenheimen.«
    Mari schien über die Ereignisse in Finnland auf dem Laufenden zu sein. Lia dagegen hatte die letzten Jahre kaum verfolgt, was in ihrer Heimat geschah. Sie las lediglich die wenigen Nachrichten, die man in Großbritannien für publikationswürdig hielt. Meist waren sie deprimierend oder albern – schwere Unglücksfälle, Sexskandale von Politikern oder verrückte Dorffeste.
    Dann erzählte Lia von ihrer Familie, die aus Kajaani im Norden nach Helsinki gezogen war, als sie noch ein Kind war. Aus der Zeit in Kajaani waren ihr nur die Winter in Erinnerung geblieben, richtige kalte Winter, kein Matschwetter wie in Helsinki.
    Wenn sie in dieser Jahreszeit zur Schule gehen musste, war es stockdunkel gewesen. Nach dem Aufstehen war sie immer zuerst ans Fenster gerannt. Fröstelnd drängte sie sich, so nah es ging, an den darunter glucksenden Heizkörper. Eine tatsächliche Berührung hätte zu Verbrennungen geführt, wieder der Kälte des sie umgebenden Raumes ausgesetzt zu sein, erschien Lia allerdings ähnlich schmerzhaft. So hatte sie sich zum Anziehen genau die perfekte Stelle zwischen den Wärme-Polen gesucht und aus dem Fenster gesehen.
    »In der Dämmerung waren nur die kleinen roten Signallampen an den Fabrikschornsteinen zu sehen. Auf der Straße bewegten sich dunkle Punkte, Menschenpunkte, die sich zu den Lichtquellen der Fabriken schleppten.«
    Lia wusste, dass sie nichts mehr zu sagen brauchte, Mari würde auch so verstehen, wovon sie sprach: Die Arbeitsmoral der Finnen, die Einstellung, zu der auch sie beide erzogen worden waren – die Wichtigkeit der Ausbildung, der Wert der Arbeit, der Gedanke, dass man durch industrielle Produktion Gutes in die Welt brachte.
    Sie tranken noch einen Schluck Kognak. Obwohl sich beide nicht nach Finnland sehnten, hatte ihre Heimat sie geprägt. Der kleine Abstand, den sie auf der Bank hielten, erzählte von den leeren Landstraßen Finnlands, von den Entfernungen in dem dünnbesiedelten Land, die die Menschen nicht zu trennen, sondern ihnen inneren Frieden zu geben schienen.
    Der schnelle Takt, in dem sie tranken, zeigte, wie trinkfest finnische Frauen waren und wie bewusst ihnen die Vergänglichkeit des Moments war.
    »Du denkst an die finnischen Frauen«, sagte Mari.
    Lia nickte.
    Woher weißt du das?
    »Im Pub hast du dich darüber gewundert, dass ich die Zahl deiner Männer annähernd richtig geraten habe. Weißt du, ich hatte zwei Gründe für meine
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