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Die Frau ohne Gesicht

Die Frau ohne Gesicht

Titel: Die Frau ohne Gesicht
Autoren: Pekka Hiltunen
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redete.
    »Hier musste ich dann erst recht um einen Job kämpfen«, fuhr sie fort.
    Das erste Jahr in England war deprimierend gewesen. Lia hatte nicht geahnt, dass sie plötzlich Teil einer ganz bestimmten Gruppe von Menschen war: die internationale Paria-Kaste der Kreativen. Von ihnen gab es in London Zigtausende, wenn nicht gar Hunderttausende. Alle besaßen eine Ausbildung, Erfahrung oder Talent, um aber auf ihrem Gebiet Karriere zu machen, mussten sie sich ihren Lebensunterhalt und ihre Sporen mit Drecksarbeit verdienen. Mit kleinen Aufträgen, ohne Honorar oder für miserable Kunden.
    Als EU -Bürgerin stand es Lia frei, in England zu wohnen und Arbeit zu suchen, aber ihr finnischer Studienabschluss reichte hier nicht. Ihr Englisch war passabel, doch für eine Grafikerin war ihr Wortschatz zu begrenzt. Es genügte nicht, die Songs einiger britischer Bands auswendig zu kennen.
    Sie lieh sich Geld von ihren Eltern, schrieb sich an der Universität ein und übernahm nebenbei jeden Grafikerjob, den sie bekommen konnte. Sie gestaltete Werbezettel, die unter die Scheibenwischer parkender Autos geklemmt wurden. Das Honorar war unverschämt niedrig, aber durch den Job bekam sie Kontakte und fand schließlich eine Stelle als Freelance-Grafikerin bei einer Stadtteilzeitung. Danach gestaltete sie die Broschüren und die einmal jährlich erscheinende Zeitschrift des Anthropologischen Museums. Das wiederum verschaffte ihr einen unbezahlten Job bei der feministischen Zeitschrift Sheer .
    »Einmal, als ich gerade dort im Büro war, bekam die Chefredakteurin einen Anruf.«
    Die beiden Grafiker von Level waren krank, die regulären Vertreter nicht zu erreichen, und die Zeitschrift musste in sieben Stunden druckfertig sein. Lia eilte mit einer anderen Kollegin zu Hilfe. Sie war überglücklich: ein Job bei Level , einer bekannten, hochrangigen Zeitschrift!
    Der Einsatz endete im Fiasko. Unmittelbar vor der Drucklegung stellte sich heraus, dass sie beim Layout technische Fehler gemacht hatten, weil sie in der Eile nicht alle Anweisungen verstanden hatten. Der Druck verzögerte sich, was dem Verlag zusätzliche Kosten bescherte. Dennoch war Lia dem AD , dem Artdirector von Level offenbar in positiver Erinnerung geblieben, denn im darauffolgenden Sommer wurde ihr eine Urlaubsvertretung angeboten. Als sie mit ihrem Studium fertig war, bekam sie eine feste Anstellung.
    »Da habe ich meinen Namen geändert.«
    Lia hieß eigentlich Lea. Lea Pajala. Sie hatte ihren Vornamen nie gemocht, weil sie ihn altmodisch fand. Die Engländer sprachen ihn ohnehin wie »Lia« aus, so nahmen andere die Veränderung gar nicht wahr. Sie hatte den Buchstaben nur um ihrer selbst willen gewechselt. Und irgendwie kam es ihr vor, als schütze die Änderung sie vor den Dingen in Finnland, an die sie sich nicht erinnern wollte.
    Lia erzählte Mari, dass die Kollegen bei Level ihr den Spitznamen »Miss Finnland« gegeben hatten. Sie fand das witzig. Sie war nicht so barbiehaft hübsch und strahlend wie eine Schönheitskönigin, sondern eher eckig. Und trotzdem passte der Name zu ihr, weil sie so war, wie die Briten sich Finnland vorstellten: kalt und fern.
    »Na ja, kalt bin ich eigentlich nicht. Aber ich nehme mir das Recht heraus, mich nicht an albernem Geschwätz zu beteiligen.«
    Lia riss mit ihren Kollegen Witze, sprach aber nicht über ihr Leben. Sie arbeitete. Die Arbeit einer Grafikerin bestand zu einem großen Teil darin, nachzudenken, Ideen zu entwickeln. Viele glaubten, es gehe allein darum, Linien und Illustrationen zu zeichnen, doch das war nur der sichtbare Teil.
    Sie arbeitete so viel, dass ihre Zeit nur für zwei Hobbys reichte. Beiden widmete sie sich mit Leidenschaft.
    Am liebsten war ihr das Laufen. Sie joggte an drei Abenden in der Woche, manchmal auch an vier oder fünf. Immer in schnellem Tempo und mindestens anderthalb Stunden lang, sodass der Endorphinpegel hoch genug war, um ihr ein Gefühl von Entspannung zu verschaffen.
    Sie joggte auf den von Bäumen gesäumten, hügeligen Straßen und an den Rändern der Parks in ihrem Wohngebiet in Hampstead. Sie hatte vier feste Strecken, unter denen sie je nach Wetterlage eine auswählte – in Heath spürte man Regen und Wind stärker, und North End war erst am späten Abend angenehm, wenn die Straßen sich leerten.
    Beim Laufen stellte Lia sich oft vor, sie würde von hoch oben aus der Luft auf sich herabblicken: eine schlanke Frau im dunkelblauen Trainingsanzug, die blonden Haare im Nacken
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