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Die Frau ohne Gesicht

Die Frau ohne Gesicht

Titel: Die Frau ohne Gesicht
Autoren: Pekka Hiltunen
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Schlussfolgerung. Erstens stammst du aus Finnland und zweitens war da die Art, wie du Männer anschaust: intensiv, abschätzend, fasziniert.«
    Mari schwieg kurz, dann fuhr sie fort.
    »Das klingt gerade so, als wären wir qualitätsbewusste Männerkonsumentinnen. Aber du weißt sicher, was ich meine. Dass eine Frau Männer ungeniert genießen kann.«
    Lia nickte.
    »Aber was hat Finnland damit zu tun?«
    Mari grinste.
    »Wie viel Zeit bringst du mit? Ich habe eine komplette Theorie über die finnischen Frauen.«
    »Die will ich hören«, lachte Lia.
    Mari holte tief Atem und begann: »Viele Finninnen sind genauso wie die Frauen überall auf der Welt. Zu langweiligen, braven Wesen erzogen. Von Konventionen erdrückt.«
    Doch daneben gebe es eine ganz andere Sorte finnischer Frauen.
    »Die kommen dabei heraus, wenn man Mädchen mit Roggenbrot, Wodka, guten Filmen und dem Emanzipationsgedanken füttert.«
    »Eine hervorragende Diät«, bestätigte Lia.
    »Diese finnischen Frauen sind so ähnlich wie Moschusochsen. Wir beide sind Moschusochsen.«
    Sie lachten.
    »Für uns ist die Welt kalt, dunkel und windig, aber wir stehen fest an unserem Platz«, fuhr Mari fort. »Wir haben eine strenge Einstellung zu uns und zur Welt. Wir sind härter. Einsamer und stärker.«
    Das sei schon in jungen Jahren zu erkennen. Finnische Mädchen besäßen alle Fähigkeiten und alles Wissen, das die Welt zu bieten habe. Könne man von irgendwem die Lösung der Probleme dieser Welt erwarten, dann von den jungen finnischen Frauen.
    »Außerdem sind sie verantwortungsbewusst. Sie können trauern und fürsorglich sein. Ob es einem gefällt oder nicht, wir sind dazu geschaffen, stark zu sein.«
    Mari war davon überzeugt, dass man in den finnischen Frauen von heute die Kraft finde, die sich im Lauf der Geschichte angesammelt habe. Ihre Mütter und Großmütter und Urgroßmütter seien unter den ersten gewesen, die aufgehört hatten, das Spiel der Männer mitzuspielen und selbstständig geworden waren. Sie hatten sich eine Ausbildung verschafft – oft eine bessere als die Männer –, waren in die Politik gegangen, hatten ihre eigenen Entscheidungen getroffen.
    »Deshalb haben wir die angeborene Freiheit zu tun, was wir wollen. Zum Beispiel nachts auf einem Londoner Hügel zu saufen.«
    Lia lachte. Mari hatte soeben alles auf den Punkt gebracht, was sie an sich selbst mochte und nicht mochte.
    Obwohl ich eher zu den Frauen gehöre, die ein langweiliges Leben führen.
    Von den Konventionen erdrückt.
    Sie schwiegen eine Weile, dann sagte Mari: »Erzähl mir alles. Von Anfang an.«
    Lia wusste gleich, was sie meinte.
    »Ich gehöre nicht hierher«, begann sie.
    London war die falsche Stadt für Lia. Es hatte etwa zwei Jahre gedauert, bis sie sich das eingestanden hatte, danach hatte sie beschlossen, aus praktischen Gründen dennoch zu bleiben. Und bisweilen mochte sie London ja auch.
    Sie hatte Finnland mit zweiundzwanzig verlassen, als sie gut zwei Jahre ihrer Ausbildung zur Grafikerin hinter sich hatte.
    »Ich dachte mir, wenn ich in Finnland bleibe, bin ich eine unter Tausenden künstlerisch begabter Frauen, die allesamt um schlecht bezahlte Jobs an Schulen oder Museen konkurrieren.«
    London hatte sie nicht aus Vernunftgründen gewählt, sondern wegen etwas, das Zwanzigjährigen reichlich zur Verfügung steht: Träume. Ihr Traum war allerdings so banal, dass sie sich immer noch genierte, darüber zu sprechen.
    Sie lächelte über ihre Erinnerung. Mit vierzehn hatte sie im Fernsehen eine britische Serie gesehen, in der ein gutaussehender Mann mitspielte, der einen Pullover trug. Nachts hatte Lia von diesem Pullover geträumt: wie sie den Kopf an ihn presste und darunter den Brustkorb des Mannes spürte. Sie hatte in seinen Armen gelegen und sich so behütet gefühlt wie nie zuvor.
    »Ich dachte, hier würde ich dieses Gefühl wiederfinden. Das ›Pullovergefühl‹. Lächerlich. Total blöd. Aber aus lächerlichen Gründen tun wir ja … alles Mögliche. Lächerlichkeit ist wohl der Normalzustand des Menschen.«
    Mari nickte schweigend.
    Es ist seltsam, mit jemandem so offen zu reden , dachte Lia.
    Irgendetwas an Mari weckte in ihr den Drang, sich zu offenbaren. Dennoch erzählte Lia auch Mari nicht die ganze Wahrheit. Weshalb sie Finnland wirklich verlassen hatte. Über ihre damaligen Berufspläne konnte sie mit jedem sprechen, über die Pullovergeschichte nur mit wenigen. In Finnland waren aber auch Dinge geschehen, über die sie nie
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