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Die Frau mit dem Muttermal - Roman

Die Frau mit dem Muttermal - Roman

Titel: Die Frau mit dem Muttermal - Roman
Autoren: H kan Nesser
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herumgehurt, dass ich mindestens zehn Jahre älter aussehe. Meinen ersten Kunden bediente ich mit fünfzehn.
    Außerdem habe ich dieses Todesurteil in mir. Das erfuhr ich im Oktober, und als ich etwas später von meinen Vätern hörte, stand mein Entschluss fest.
    Es war eine gute Entscheidung.
    Das Leben meiner Mutter bestand nur aus Qualen. Aus Qualen und dem Gefühl der Wertlosigkeit.
    Meines auch. Aber endlich begriff ich. Ich erkannte die Logik. Was sonst hätte aus so einer Liebesnacht entstehen können wie die damals, in der mir meine Väter das Leben schenkten?
    Welches Leben?
    Ich bin die Frucht einer Gruppenvergewaltigung.
    Und diese Frucht tötet nun ihre Väter.
    Damit schließt sich der Kreis.
    Natürlich klingt das nach dunkler Poesie. In einem anderen
Leben wäre ich sicher Dichterin geworden. Da hätte ich geschrieben und gelesen, ich hatte das in mir, aber nie eine Chance bekommen.
    Wenn ich fertig bin, wird es keine lebende Seele mehr geben, die diese Nacht miterlebt hat. Wir werden alle tot sein. Das ist die Logik, die dahintersteckt.
    Meine Mutter – die die Unterhose meines Vaters während des Liebesaktes im Mund hatte – gab mir den Auftrag, und in ihrem Namen habe ich alle umgebracht. Das hat mir viel Freude gemacht, größere Freude, als ich sie jemals sonst in meinem Leben verspürt habe. Ich habe zu keiner Zeit Schuld oder Reue gespürt, und kein Mensch soll kommen und mich zur Rede stellen.
    Ich bin auch froh, dass meine Mutter das, was sie von meinen Vätern erpresst hat, gespart hatte. Das hat mir sehr geholfen, und der Gedanke gefällt mir, dass sie auf diese Art und Weise ihren eigenen Tod bezahlt haben. Ich wiederhole: Es hat mir ein starkes Gefühl der Zufriedenheit gegeben, meine Väter zu töten. Ein sehr starkes. Ich bin die ganze Zeit sehr sorgfältig vorgegangen und will das bis zum Schluss beibehalten. Ich schreibe aus zwei Gründen. Zum einen möchte ich, dass der wahre Grund bekannt wird. Zum anderen muss ich Zeit gewinnen, deshalb habe ich zunächst im Wirtshaus eine Nachricht hinterlassen. Wenn Sie diesen Brief zu dem Zeitpunkt, den ich mir erhoffe, lesen, habe ich meinen Zweck erreicht.
    Um 22 Uhr fahre ich mit der Fähre von Oostwerdingen zu den Inseln hinaus, aber wenn wir in den Hafen einlaufen, werde ich nicht mehr an Bord sein.
    Ich werde genug Ballast haben, der mich in die Tiefe zieht, wo ich hoffe, dass die Fische schnell mein infiziertes Fleisch fressen werden.
    Ich werde nie wieder an die Oberfläche kommen. Nichts von mir.
    Reinhart faltete den Briefbogen zusammen und schob ihn wieder in den Briefumschlag. Dann blieb er noch eine Weile sitzen und zündete seine Pfeife an, die ausgegangen war.
    »Was soll man dazu sagen?«, fragte er schließlich.
    Der Hauptkommissar lehnte sich auf seinem Sessel zurück, er hatte die Augen geschlossen.
    »Nichts«, sagte er. »Du brauchst nichts zu sagen.«
    »Keine Unterschrift.«
    »Nein.«
    »Es ist Viertel vor eins.«
    Van Veeteren nickte. Er streckte sich und zündete sich eine Zigarette an. Nahm ein paar Züge. Stand auf, ging quer durchs Zimmer und löschte das Licht.
    »Welcher Hafen wird als Erster angelaufen?«, fragte er, als er sich wieder gesetzt hatte.
    »Arnholt, glaube ich«, antwortete Reinhart. »So gegen eins.«
    »Ja«, sagte Van Veeteren. »Das kann stimmen. Geh zum Auto und versuche mit der Fähre Kontakt zu kriegen. Sie müssen sie durchsuchen. Sie kann es sich ja anders überlegt haben.«
    »Glaubst du?«, fragte Reinhart. »Nein«, erklärte Van Veeteren. »Aber wir müssen schließlich unsere Rollen zu Ende spielen.«
    »Ja, das denke ich auch«, sagte Reinhart. »The show must go on.«
    Er ging hinaus und ließ den Hauptkommissar allein im Dunkeln zurück.
    44
    Sie schloss die Tür, und fast im gleichen Augenblick legte die Fähre ab. Durch das ovale, gewölbte Fenster konnte sie die Lichter des Hafens vorbeigleiten und verschwinden sehen.
Das war der letzte Luxus, den sie sich gönnte: eine Einzelkabine oben auf dem B-Deck. Die hatte so ziemlich alles gekostet, was sie noch hatte, aber das war keine Laune von ihr. Eine Notwendigkeit und logische Forderung war es. Sie musste allein sein, während sie das Letzte vorbereitete, das ließ sich auf keine andere Art und Weise durchführen.
    Sie kontrollierte die Zeit. Sieben Minuten nach zweiundzwanzig Uhr. Sie setzte sich aufs Bett und strich mit der Hand über das frischgebügelte Laken und die warme rote Wolldecke mit dem Wappen der Reederei. Schraubte
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