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Die Frau mit dem Muttermal - Roman

Die Frau mit dem Muttermal - Roman

Titel: Die Frau mit dem Muttermal - Roman
Autoren: H kan Nesser
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ich.
    Aber es werden hoffentlich bald noch mehr Menschen trauern.
    Das war keine schlechte Formulierung, und während sie dort stand und mit Kälte, Nässe und dem unterdrückten Weinen kämpfte, erschien es ihr, als entflammten diese Worte in ihr ein kleines Feuer. Das schließlich Nahrung durch etwas Brennbares bekam, etwas, das langsam alles alte Eingefrorene auftaute und das Durcheinander in der Seele ordnete.
    Ein Feuer, das bald weitere Nahrung bekommen und andere zum Glühen bringen sollte, auf dass sie in den Flammen verzehrt werden … es gab viele, die dieses Meer der Wut zu fürchten hatten, das sie, wenn die Zeit gekommen war, umspülen und sie alle vernichten würde!

    Auch dieser Gedanke ließ sie auflachen. Vielleicht hatte sie so etwas einmal gelesen, oder es stimmte, was einer ihrer allerersten Liebhaber behauptet hatte: dass sie dafür eine Ader hatte. Ein Gefühl für Poesie und Wortbilder.
    Für die Wahrheit und die Leidenschaft. Oder eher die Leiden; ja, das erschien treffender, zweifellos. Denn gelitten hatte sie. Zwar nicht so viel wie ihre Mutter, doch sie hatte auch ihren bescheidenen Teil abbekommen. Im Übermaß.
    Ich friere, dachte sie. Nun komm doch, du Scheißbus!
    Aber der Bus ließ auf sich warten. Alles schien auf sich warten zu lassen, und während sie dort in der einsetzenden Dunkelheit in diesem ungenügenden Windschutz von einem Fuß auf den anderen trat, da wurde ihr plötzlich klar, dass ihr Leben genau so ausgesehen hatte. Das hier war das wahre Sinnbild, wenn es darum ging, wie alles gekommen war.
    Dastehen und warten auf das, was nie kam. Ein Bus. Ein guter Mann. Ein vernünftiger Job.
    Eine Chance. Eine einzige verfluchte Chance, etwas aus dem eigenen Leben zu machen.
    Dastehen und in Dunkelheit, Wind und Regen warten. Und jetzt war es zu spät.
    Sie war neunundzwanzig Jahre alt, und es war bereits zu spät. Meine Mutter und ich, dachte sie. Eine Trauernde oben am Grab. Eine unten drin. Wir hätten ebenso gut die Plätze tauschen können. Oder uns nebeneinanderlegen können. Niemand hätte etwas dagegen gehabt. Wenn nicht …
    Und sie spürte erneut, wie das Feuer aufflackerte, und mit einem Mal wuchs es in ihr und erfüllte sie mit Wärme. Eine kräftige, fast sinnliche Hitze, die sie trotz ihrer Betrübnis lachen und die Hände tief in den Manteltaschen fester zu Fäusten ballen ließ.
    Sie warf einen letzten Blick auf die lange Kurve, in der nicht die geringste Andeutung eines Scheinwerfers zu erkennen war. Dann drehte sie sich um und ging auf die Siedlung zu.

    2
    Weihnachten kam und ging.
    Silvester kam und ging. Ein Regenschauer löste den nächsten ab, und die bleigrauen Tage verflossen in monotoner Gleichförmigkeit. Ihre Krankschreibung lief aus, das Arbeitsamt zahlte weiter. Der Unterschied war unmerklich. Krankgeschrieben seit wann? Arbeitslos seit wann?
    Das Telefon war abgeschaltet. Als sie den Bescheid im Oktober bekommen hatte, hatte sie bewusst die Rechnung liegen lassen, und jetzt hatte man reagiert. Die Mühlen der Bürokratie mahlten langsam, aber trefflich klein.
    Das war gut so. So musste sie mit keiner Menschenseele sprechen. Wenn denn überhaupt jemand angerufen hätte. Denn es gab keinen Zweifel, mit der Zeit waren ihre Freunde immer weniger geworden. In den vierzehn Tagen direkt nach der Beerdigung hatte sie mit summa summarum zwei Bekannten gesprochen. Heinzi und Gergils traf sie zufällig auf dem Markt, und beide versuchten im Laufe von nur dreißig Sekunden, etwas bei ihr zu schnorren. Heroin oder ein bisschen Hasch oder jedenfalls Schnaps verdammt, irgendwas hatte sie doch sicher für gute, alte Freunde. Wenigstens eine Dusche und einen kleinen Fick?
    Nur Gergils war so weit gegangen, und einen Moment lang hatte sie mit dem Gedanken gespielt, ihm eine halbe Stunde zu gewähren. Nur so zum Vergnügen und weil die Möglichkeit bestand, ihn mit hineinzuziehen.
    Aber es war natürlich nicht sicher, dass es klappte. Ganz im Gegenteil. Die Chancen waren gering. Eine schwerübertragbare Krankheit, trotz allem, was man so hörte, das hatten sogar die Ärzte betont. Aber dieses eine Mal war es ihr jedenfalls gelungen, sich vorzudrängeln. Denn gewiss gab es viele, die ein viel höheres Risikoverhalten hatten und trotzdem nicht infiziert wurden.
    Risikoverhalten? Was für ein schreckliches Wort. War denn
nicht ihr ganzes Leben ein ewiges, verfluchtes Risikounternehmen gewesen? Aber es stimmte wohl, was Lennie vor vielen Jahren gesagt hatte: wenn man am
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