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Die Frau in Rot: Roman (German Edition)

Die Frau in Rot: Roman (German Edition)

Titel: Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
Autoren: Margot S. Baumann
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Stirn. Wieso stand denn die Haustür offen?
    »Hallo? Tati Valerie?« Sie betrat den dunklen Hausflur und blinzelte, bis sich ihre Augen an den Lichtunterschied gewöhnt hatten. »Ich bin’s, Anouk. Bist du da?«
    Keine Antwort. Sie hörte die Standuhr ticken und das Zwitschern der Vögel in den Kastanienbäumen hinter dem Haus. Hinter dem Haus? Alarmiert lief sie durch den Flur und stolperte über ein Paar Hausschuhe, die mitten im Gang stehen gelassen worden waren. Die Tür zum Garten stand ebenfalls sperrangelweit offen.
    »Tati Valerie!«, rief sie und schaute nach links und rechts. Lag da nicht eine Gestalt vor den Forsythiensträuchern? Anouks Knie wurden weich. War der Tod denn ihr ständiger Begleiter geworden? Erst Julia und nun Großtante Valerie? Hatte sie das Schicksal herausgefordert, indem sie erst kurz zuvor so geringschätzig über alte Leute gedacht hatte? Ihr brach der kalte Schweiß aus.
    Ihre Großtante lag mit ausgestreckten Armen zwischen den Sträuchern und hatte die Stirn auf den Boden gepresst. Sie sah wie ein Mönch aus, der auf dem Fußboden seiner Kirche liegend Buße tut.
    »Tati Valerie?«
    Anouks Stimme zitterte. Sie beugte sich zu ihrer Großtante hinunter und berührte deren Schulter. Valerie Morlot drehte den Kopf. Anouk schrie erschreckt auf und sprang einen Schritt zurück.
    »Meine Güte, Anouk«, sagte ihre Großtante in genervtem Tonfall, »weshalb schreist du denn so? Ich bin doch nicht taub. Hilf mir lieber hoch!«
    Sie streckte ihre Hand aus. Anouk war zu perplex, um etwas zu erwidern, und griff automatisch nach den welken Fingern, die sich erstaunlich kühl anfühlten. Die Haut war weich und fein wie Kalbsleder. Anouk hatte den Eindruck, einen jungen Vogel in der Hand zu halten, dessen zarte Knochen beim geringsten Druck brechen würden.
    »Ich habe dich später erwartet, Kleine.« Valerie strich sich die weißen Haare aus der Stirn und lächelte ihre Großnichte erfreut an. »Du solltest mehr essen«, fügte sie hinzu und schnaubte missbilligend. »Ein Mann will schließlich etwas in den Händen halten.«
    »Tati Valerie, was zum Kuckuck hast du gerade gemacht? Ich habe mich zu Tode erschrocken.«
    »Tatsächlich? Das tut mir leid«, erwiderte ihre Großtante und zupfte sich einen Grashalm von der geblümten Bluse. »Ich habe das Kind gesehen, aber als ich aus dem Haus kam, war es bereits wieder weg.« Sie seufzte und schüttelte den Kopf. »Egal, dass es verschwindet, bin ich ja schon gewohnt, also habe ich mich halt mit den Ameisen unterhalten.«
    Anouk glaubte, sich verhört zu haben. »Du hast was?«
    Die Augen ihrer Großtante wurden schmal. »Ich bin nicht verrückt«, murmelte sie, drehte sich um und ging aufs Haus zu. Sie blieb stehen und blickte über die Schulter. »Magst du einen Früchtetee? Es ist heiß heute. An solchen Tagen sollte sich eine Dame nicht zu lange in der Sonne aufhalten … das schadet dem Teint.«
    Anouk schaute ihrer Großtante mit offenem Mund hinterher. Das konnte ja heiter werden.
    Das Gästezimmer befand sich im Obergeschoss. Als Anouk die Tür öffnete, schlug ihr abgestandene, nach Mottenkugeln und altem Staub riechende Luft entgegen. Sie nieste, riss das Fenster auf und hievte ihren Koffer aufs Bett. In diesem Zimmer hatte sie zusammen mit ihrer älteren Schwester Aimée immer die Sommerferien verbracht. An den Wänden hingen noch ein paar ihrer Kinderzeichnungen, die ungeschickt mit Reißzwecken befestigt waren. Sie schmunzelte. Gottlob hatten weder sie noch ihre Schwester eine Karriere als Malerin angestrebt.
    Aimée lebte mit ihrem Mann in Marseille und hatte inzwischen drei Kinder. Die Zwillinge Matthieu und Luca und Charlotte, das Nesthäkchen.
    Anouk vermisste ihre große Schwester und hatte auf ihren Reisen so oft wie möglich in Südfrankreich Station gemacht. Julia hatte sie manchmal in die Camargue begleitet. Ihre Freundin liebte alles, was französisch war. Hatte geliebt.
    Anouk setzte sich aufs Bett und vergrub das Gesicht in ihren Händen. Sie hätte an jenem Tag am Steuer sitzen sollen und nicht Julia. Im Grunde war es nur Zufall gewesen, dass sie noch lebte, während Julia gestorben war und nun auf dem Friedhof lag, wo eigentlich sie hätte liegen müssen.
    Durch das offene Fenster strich eine leichte Brise herein, die den Geruch von Seewasser und Kuhmist mitbrachte. Irgendwo lachte ein Kind, und ein Hund bellte sich die Seele aus dem Leib. Aus der Küche drang Geschirrklappern zu ihr nach oben. Anouk stand auf, atmete
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