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Die Frau in Rot: Roman (German Edition)

Die Frau in Rot: Roman (German Edition)

Titel: Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
Autoren: Margot S. Baumann
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eine bequeme Hose an, wählte ein sommerliches Top und schlüpfte in ihre alten Turnschuhe. Als sie die Treppe hinunterging, hörte sie Stimmen aus dem Wohnzimmer.
    »Na, was haben die Ameisen denn heute erzählt?«
    Anouk unterdrückte ein Lachen. Der Arzt wusste also über die Freizeitbeschäftigung ihrer Großtante Bescheid. Sie war ihm insgeheim dankbar dafür, die Frage ohne jeden ironischen Unterton gestellt zu haben. Es machte ihn ihr sympathisch, aber sie hatte trotzdem keine Lust, seine Bekanntschaft zu machen.
    Sie verließ das Haus durch den Hinterausgang und schlug den Weg zum See ein. Es war später Nachmittag. Die arbeitende Bevölkerung befand sich auf dem Heimweg. Anouk passte eine größere Lücke im dichten Verkehr ab, lief über die Straße und stieg die Böschung hinter dem Brestenberg hinunter. Die Sonne brannte vom wolkenlosen Himmel. Schon nach wenigen Minuten kam Anouk ins Schwitzen und atmete auf, als sie den Uferweg erreichte, der von mannshohem Schilf gesäumt war. Linker Hand lag das Brestenberg-Bad. Eine Lichtung am Seeufer, auf der man grillen, sich sonnen oder über eine gemauerte Treppe ins Wasser steigen konnte. Gleich daneben befand sich ein kleiner Kiosk, an dem Getränke, Eis und Sandwichs verkauft wurden.
    Anouk hörte Gelächter, plärrende Musik und das Gekreische planschender Kinder. Sie wandte sich nach rechts und folgte dem Pfad, der sich rund um den See schlängelte. Nach wenigen Minuten war der Lärm der Badenden verhallt. Jetzt waren nur noch das Plätschern der Wellen und vereinzelte Vogelstimmen zu hören. Der gut gepflegte Weg wurde schmaler. Ab und zu begegneten ihr Spaziergänger, die ihre Hunde ausführten, und ältere Paare, die freundlich grüßten.
    Nach einer knappen halben Stunde endete der Pfad an einem kleinen Wasserlauf. Über einen Steg gelangte Anouk auf einen gekiesten Platz, der von mächtigen Eichen gesäumt wurde. Durch die belaubten Äste hindurch erspähte sie das Wasserschloss Hallwyl. Seine gestreiften Fensterläden, die in Ocker und Schwarz gestrichen waren, hatten Aimée und Anouk in ihrer Kindheit immer an riesige Bienen erinnert, die sich auf ihrer Suche nach Nektar an der Fassade des Schlosses eine kleine Pause gönnten. Das Areal war menschenleer, was sie erstaunte, normalerweise herrschte vor dem malerischen Wasserschloss immer ein Gedränge, als wäre man auf der Kirmes. Anouk schaute auf ihre Armbanduhr. Es war kurz nach sechs. Vermutlich war das alte Gemäuer schon geschlossen. Und tatsächlich stand sie kurze Zeit später vor dem verriegelten Holztor, das über eine Steinbrücke zu erreichen war.
    »Montag ist zu«, sagte eine Stimme neben ihr und ließ sie erschrocken zusammenfahren. Ein kleines Mädchen mit einem blonden Pferdeschwanz und einer riesigen Zahnlücke grinste zu ihr hoch und wies mit dem Arm auf eine Tafel mit den Öffnungszeiten.
    »Danke«, erwiderte Anouk, »aber ich kenne das Schloss. Ich kam als Kind früher oft hierher. Und …« Sie brach ab.
    Das Mädchen neigte den Kopf zur Seite und hüpfte davon.
    Anouk biss sich auf die Lippen. Wieso hatte sie nur ständig das Gefühl, sich für alles rechtfertigen zu müssen?
    Sie atmete tief durch, setzte sich auf eine Parkbank in der Nähe des Wassergrabens und sah den Enten zu, die sich um ein Stück Brot balgten. Eine Krähe hockte auf einer Zinne und beäugte ihre gefiederten Verwandten aufmerksam. Über dem träge dahinfließenden Bach, in dem sich das Sonnenlicht spiegelte, tanzte ein Schwarm Mücken. Der Geruch von brackigem Wasser, Algen und trockener Erde war nicht unangenehm. Er erinnerte Anouk wie die Bienen-Fensterläden an ihre Kindheit. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah zu den Baumkronen hinauf. Die Blätter zitterten leicht, obwohl kein Wind zu spüren war, als hätten sie vor etwas Angst. Anouk schloss die Augen. Sie fühlte sich müde und ausgelaugt.
    »Désirée! Wo bist du?«
    Nackte Panik schwang in der Frauenstimme. Anouk schreckte hoch. Ihre Nackenhaare richteten sich auf, und sie sah alarmiert in den Wassergraben. Mein Gott, trieb da etwa ein Mädchenkörper? Doch es war nur eine Plastiktüte, die sich zwischen den Seerosenblättern verfangen hatte. Sie stieß erleichtert die Luft aus, stand auf und sah sich um. Aber weit und breit war niemand zu sehen – sie war mutterseelenallein.
    Schloss Hallwyl, Mai 1743
    »Gnädiges Fräulein.«
    Ein schmächtiges Männchen streckte ihr die Hand entgegen. Bernhardine grauste vor dessen knochigen Fingern.
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